Sehnsucht Urlaub

Ich habe meinen Koffer gepackt und sitze nun am Flughafen in so einem Laden, der für viel zu viel Geld Kaffee verkauft. Aber was soll man machen, wenn der Flug Verspätung hat, die Müdigkeit einen überkommt und das auch noch der einzige Ort mit WLAN zu sein scheint. Zugegebener Maßen: Mein Cafè Latte ist gerade auch sehr lecker und von meinem Sitzplatz aus kann ich prima das Treiben der Flugreisenden beobachten. Ja ich beobachte gerne. Deshalb habe ich bestimmt auch einst die Soziologie als das Studienfach meiner Wahl ersonnen…
…und weil ich ausgerechnet das habe, sitze ich nun hier am Flughafen und fliege nach München statt nach Thailand. Es ist eine Dienstreise, ein letztes Mal will ich ins Forschungsfeld gehen, ehe ich meine Doktorarbeit fertigstelle. Es ist viel zu tun derzeit und an Urlaub ist nun wirklich nicht zu denken. Aber natürlich überkommt einen genau dann, wenn man es am nötigsten braucht, aber am wenigstens gebrauchen kann, diese Sehnsucht. Die Sehnsucht, in die Ferne zu schweifen und zwar nicht nur mit den Gedanken, sondern auch mit allen Sinnen.

Die Mitreisenden

Ich sitze hier nun und beobachte all die Reisenden. Ich frage mich, wohin sie wohl fliegen und was sie am Zielort zu tun gedenken. Selbstverständlich habe ich keine Ahnung, wohin diese Menschen fliegen, aber was spielt das schon für eine Rolle. Mir geht es nicht um Realitäten, sondern um meine Sehnsüchte, die mich gerade bannen. Wie gern würde ich jetzt einfach so wegfliegen. Neue Kulturen kennenlernen, Sehenswürdigkeiten bestaunen, landestypische Speisen verzehren, die spezifischen Gerüche fremder Orte einsaugen und die Sonne auf meiner Haut spüren, während ich ein bei einem Kaffee die Seele baumeln lasse.

Stattdessen aber sitze ich einfach hier am Flughafen und stelle mir stattdessen vor, wohin es eben meine Mitreisenden so führen wird.

Der Nerd

Da sehe ich zum Beispiel diesen Nerd in der Ecke sitzen. Mit Kopfhörern auf den Ohren, einer Brille auf der Nase, in weißen T-Shirt und blauer Weste sitzt er da. Tief versunken vor seinem Laptop. Er tippt unentwegt und trinkt kaum aus seinem Becher. In jedem Falle war das Kaltgetränk eine gute Wahl, denn jedem heißen Kaffee wäre längst jede Wärme abhanden gekommen. Er lässt sich durch seine Umgebung nicht beirren und werkelt konzentriert herum. Ob er wohl gerade seinem Business-Plan den allerletzten Schliff verleiht, weil er potentielle Investoren in New York von seinem gerade erst entwickelten und natürlich wirklich genialen Programm überzeugen will?

Ach New York. Ich war noch niemals in New York. Alles, was ich von New York weiß, stammt aus Filmen. Wenn es ähnlich realitätsnah ist wie die filmischen Darstellungen meiner Heimatstadt Berlin, dann ist es sicherlich sowieso ganz anders, als ich es mir jetzt vorstelle. Vielleicht sollte ich nicht nur nach New York fliegen, sondern lieber gleich mehrere Wochen durch die USA reisen. Das wäre zweifellos ein großes Abenteuer, doch leider eines, welches ich erst in weiter Zukunft werde erleben können.

Der Geschäftsmann

Mein Blick schweift weiter und ich erblicke nicht nur einen, nein unzählige Geschäftsmänner. Grau scheint die Farbe der Saison zu sein, anders kann ich es mir nicht erklären, dass in diesem Kaffeeladen alle Männer mit Handy am Ohr und Aktenkoffer in der Hand, graue Anzüge tragen. Sie alle wirken schrecklich beschäftigt und auch nachdenklich. Ob sie über die großen Probleme der Welt grübeln? Oder doch eher über Profitmaximierung, Projekterfolg und Joberhalt?

Momentchen mal. Da greife ich aber ganz schön tief in die Stereotypenkiste. Der eine Kerl da lächelt auch zwischendurch ganz unauffällig in sich hinein. Der twittert womöglich oder schaut sich lustige Katzenbilder an. Und der andere Kerl, der einfach nicht mit dem Telefonieren aufhört und der sich parallel unentwegt Dinge notiert, der arbeitet bestimmt nur jetzt ganz viel vor, damit er an seinem Zielort nicht nur arbeiten muss, sondern auch freie Zeit genießen kann.Vielleicht fliegt er ja nach Helsinki für einen Geschäftstermin und hofft darauf, dass auch Zeit für ein paar Saunagänge übrig bleiben.

Finnland. Was weiß ich eigentlich von Finnland? Traurig wenig muss ich gerade feststellen. Eigentlich weiß ich nur, dass die Leute dort lustig sprechen und es finnisches Saunen gibt. Gut, die Hauptstadt konnte ich noch benennen und ich habe mal gehört, dass aufgrund der langen Nächte und kurzen Tage die Leute dort eher zu Depression und Alkohol neigen. So statistisch gesehen.

Polarlichter

Da kommt sie schon wieder zurück – diese Sehnsucht Urlaub. Am liebsten würde ich jetzt mit nach Helsinki fliegen, um herauszufinden, was Finnland sonst noch zu bieten hat. Okay, vielleicht klingt es auch verführerisch mit ein paar Finnen mal ordentlich einen drauf zu machen. Kühle Nördlichkeit trifft auf Alkohol und Party. Letztlich wurmt es mich aber, dass ich so gar nichts von Finnland weiß. Das muss sich ändern. Irgendwann. Vielleicht machen dann auch ein paar Finnen mit mir einen drauf.

Die Schlechtgelaunte

Das Rumgrummeln einer Frau reißt mich aus meinen finnischen Träumen. Sie meckert und zetert vor sich hin und die schlechte Laune scheint sich tief in sie eingefressen zu haben. Sie ist seit 5 Minuten da und bildet sich sein, schon 20 Minuten auf ihren Bagel warten zu müssen. Permanent schimpft sie vor sich hin und schaut unentwegt auf die Uhr als wenn die Zeit so schneller vergehen würde. Dank dieser Frau verschwindet meine Sehnsucht Urlaub nun erst einmal für einen kurzen Moment. Wer will schon mit einer Schlechtgelaunten zusammen fliegen müssen?

Doch während ich sie so beobachte, muss ich feststellen, dass sie mich nicht nur verärgert, sondern auch amüsiert. Sie ist das Grumpy Cat unter den Flugreisenden.

Der Intellektuelle

Ich muss schon etwas schmunzeln, als ich schließlich ihn entdecke: Den Stereotypen des Intellektuellen. Brille, Jackett, Rollkragen, zwei Bücher auf dem Tisch liegen, eine Zeitung lesend und immer wieder die Stirn runzeln. Er wirkt nicht schlecht gelaunt, sondern viel mehr wahnsinnig konzentriert und nachdenklich. Ich frage mich plötzlich, ob ich selbst wohl auch so auf meine Mitreisenden wirke. Meine Strickjacke jedenfalls gibt mir heute nicht unbedingt den Anschein einer trendbewussten Beautyqueen.

Auch bei ihm frage ich mich, wo es wohl hingeht. Als Wissenschaftlerin weiß ich ja, dass Forschungsreisen in der Regel nicht halb so aufregend sind, wie man das meinen könnte. Es gibt leider nur selten Parallelen zu Darwins Reise auf der Beagle. Wir Forscherinnen entdecken keine neuen Kontinente mehr, zeichnen keine Schildkröten und Finken auf fernen Inseln oder fangen Schmetterlinge. Forschung ist natürlich für eingefleischte Wissenschaftler noch immer sehr aufregend, aber um Leib und Leben müssen wir selten bangen. Ich habe guten Grund zu der Annahme, dass ich niemals an Skorbut erkranken werde oder ich mit brennenden Fackeln aus dem Dorf gejagt werde.

Aber ich möchte mir für diesen Intellektuellen keine stink-normale Forschungsreise erdenken. Es sollte schon wenigstens nach Mittel- oder Südamerika gehen. Dort wartet eine reizvolle Ausgrabungsstätte auf ihn. Hoffentlich etwas mit einem alten Fluch oder wenigstens einer anständigen Legende um einen blutrünstigen König. Ich stelle mir vor, dass die Ruinen mitten im Dschungel liegen und der Weg dorthin sehr beschwerlich ist.

Ganz so aufregend bräuchte ich meinen Urlaub nicht, aber Tempelruinen und geschichtsträchtige Orte wären schon toll. Ich liebe alte Ruinen. Nicht umsonst ist Rom meine absolute Traumstadt. Da ist sie also wieder. Die Stadt Rom. Ich weiß nicht, ob wirklich alle Wege nach Rom führen. Meine Wege auf jeden Fall.

Ich könnte noch viel mehr Mitreisende beobachten, so die Gelangweilte, die Durchgestylte oder den Piloten, aber dann blicke ich auf die Uhr und muss ganz schnell zum Boarding.

Im Flieger

Abgesehen davon, dass ich erst einmal zur extra Sprengstoffkontrolle rausgefischt werde, verläuft das Boarding reibungslos. Ich bin nun auch ganz offiziell zwar die Mutter einer Terrorpüppi, verbreite aber selbst gar keinen Terror und bin schon gar nicht eine Terroristin.

Im Flieger sitze ich nun zwischen zwei freundlichen Herren, die glücklicherweise nicht zur allzu redseligen Sorte gehören. Sie sind freundlich und zuvorkommend, sonst aber still. Ich bin zwar sonst gesellig, aber in Zügen und Flugzeugen habe ich die meiste Zeit trotzdem lieber meine Ruhe. Nur gelegentliche Plauschrunden erhöhen da meinen Wohlbefinden. Die Betonung liegt auf gelegentlich.

Wieder kann ich meiner geheimen Leidenschaft, dem Beobachten, nachgehen. Natürlich nur kurz und unaufdringlich. Zu viel Neugierde wäre nicht gut für mein Karma und auch zu viel Verletzung der Privatsphäre. Letztere kann es allerdings in so einem Flugzeug, in dem die Passagiere wie Sardinen zusammengepresst beinahe aufeinander sitzen, sowieso kaum geben. Ich komme also nicht umhin, festzustellen, dass der Herr links von mir in irgendeiner Weise Bundeswehrbezug hat. All die Fotos, die er sich in seinem Foto-Account ansieht, deuten doch mehr als stark darauf hin. Man scheint bei der Truppe doch auch mal Spaß zu haben. Beim Thema Bundeswehr kommt trotzdem nicht so recht Urlaubsstimmung auf.

Der Herr rechts von mir wiederum beschäftigt sich mit dem Jahresabschluss einer psychiatrischen Einrichtung. Das verrät mir zumindest das Deckblatt. Nachdem ich das lese, bemühe ich mich, möglichst nicht noch mehr zu lesen. Ich will zwar in den Urlaub, ganz raus aus meinem Alltag, aber so weit muss ich dann ja doch nicht gehen. Der Herr versichert mir auch, dass ich für so eine Einrichtung nicht extra nach München fliegen müsse. Ich würde sicherlich auch in Berlin fündig werden. Er lacht und ich lache mit ihm, bin aber insgeheim froh, dass er nicht weiß, wie ich mich zu Hause gerne mal zum Klops mache. Seit ich Mutter bin, habe ich nämlich den Clown in mir entdeckt. Da bewege ich mich schon mal an der Grenze zum Wahnsinn. Auch hier kommt nicht so recht Urlaubsstimmung mehr auf.

Für den Fall allerdings, dass die beiden Herren doch noch beschließen sollten, auch bei mir mitzulesen, was nur gerecht wäre und irgendwie auch wahrscheinlich, widme ich mich mal doch wieder lieber meinen Sehnsüchten. Aber nur den Urlaubssehnsüchten. Anderes könnte dann doch zu peinlichen Momenten führen.

Sehnsuchtsvolle Nicht-Urlaubsgrüße von der Mama der Terrorpüppi

P.S. Den Intellektuellen habe ich im Flugzeug tatsächlich wiedergesehen. Er saß gleich in der ersten Reihe und spielte nun auf seinem Smartphone ein Tetris-Nachfolgespiel. In München steigt er aber bestimmt nur um und fliegt am Ende doch noch nach Mittelamerika, um dort die neuesten Funde einer internationalen Ausgrabung zu diskutieren.

P.P.S. Nächste Woche wird bei Familie Motte der Koffer gepackt!

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