Dies ist ein Mamablog (Überraschung!), doch nicht jeder hat Kinder. Manche sind freiwillig kinderlos, andere wiederum hätten eigentlich gerne Kinder. Die Gründe für Kinderlosigkeit sind mannigfaltig und viel zu schnell und viel zu oft kommt es zu Frontenbildungen zwischen denen, die Kinder haben und denen, die eben keine haben. Darauf habe ich aber keine Lust, weshalb ich Kinderlosigkeit in seinen Facetten gerne beleuchten würde. Den Anfang machen heute Alex und Georg. 


Alex und Georg lernen sich 2006 bei einer beruflichen Reha kennen und werden wenig später ein Paar. Während Alex’ Erkrankung ihr einen weitgehend normalen Alltag erlaubt, verschlechtert sich Georgs Krankheitsbild kontinuierlich. Seit 2010 ist Georg in der Pflegestufe III. Entgegen aller »guten« Ratschläge heiraten Alex und Georg 2008. Sie haben sich dafür entschieden, dass Alex Georgs Pflege allein übernimmt. Zu zweit schreiben sie einen Blog über ihre Ehe, ihr alltägliches Leben und ihr gemeinsames Hobby: das Schreiben.


Der Link zum Blog der beiden findet ihr HIER. Außerdem könnt ihr Alex und Georg hier erreichen: Alex und Georg.

Wenn wir Kinder hätten, wären wir innerhalb weniger Wochen am Ende unserer Kräfte

Ein Interview mit Alexandra und Georg

 

1. Liebe Alexandra, lieber Georg. Es freut mich sehr, dass ihr euch für dieses Interview Zeit genommen habt. Vielleicht fangen wir einfach mal damit an, dass ihr euch vorstellt, damit wir Leser uns ein Bild von euch machen können. Wie würdet ihr euch und eure Lebenssituation beschreiben?

 

 

Alex: Wir sind ein Paar aus dem Landkreis Neu-Ulm in Bayern. Kennengelernt haben wir uns 2006 im Rahmen einer rehabilitativen Ausbildung, ein Paar sind wir seit dem 1. Januar 2007, und am 5. April 2008 haben wir geheiratet. Es ging also alles recht schnell bei uns, vor allem, weil wir beide nicht gesund sind und einfach immer vor Augen haben, dass wir Entscheidungen, die uns wichtig sind, nicht aufschieben wollen.

Georg: Das zum einen, ja, und zum anderen spielte da auch die Tatsache mit rein, dass man als unverheirateter Partner zum Beispiel in Krankenhäusern in der Regel keine Auskunft bekommt. Als wir geheiratet haben, hatte ich zwar noch nicht die Pflegestufe III, war aber im Alltag bereits viel auf Hilfestellung und medizinische Betreuung angewiesen, sodass dieser Gedanke einfach naheliegend war. Klingt unromantisch, aber andererseits geht man so einen Schritt ja auch nur, wenn man sich wirklich sicher mit dem Partner ist. Zu unserer heutigen Lebenssituation kann man sagen, dass wir in unserem Alltag wie auch finanziell recht gut zurechtkommen, aber andererseits auch keine allzu großen Sprünge machen können, sowohl was die Mobilität als auch den finanziellen Aspekt betrifft.


2. Wann genau kam das erste Mal das Thema „Kinderwunsch“ in euer beiden Leben jeweils individuell vor und wie habt ihr euch eure Leben damals idealerweise ausgemalt?

 

 

Georg: Ich hatte lange Zeit die Wunschvorstellung von einer Familie mit zwei Töchtern – warum gerade zwei Mädchen, weiß ich selbst nicht, natürlich hätte ich auch gegen ein Kind anderen Geschlechts nichts gehabt, aber das war die automatische Vorstellung in meinem Kopf –, hatte aber auch früh die Gewissheit, dass es sich hierbei um eine Utopie handelt. Als ich Alex kennenlernte, dachte ich einige Zeit lang, die Wunschvorstellung könnte doch Realität werden, weil ich mir zuvor nicht mal vorstellen konnte, dass sich überhaupt ein Mensch je so eng auf mich einlassen würde. Meine imaginären Töchter hatten sogar Namen, Vivien und Feliza. Aus Feliza wurde später Philippa, weil dies wiederum Alex’ Wunschname für eine Tochter gewesen wäre. Der Name Vivien fand letztlich seinen Weg in eines unserer Geschichtenkinder, das 2012 von Alex geschrieben und von mir betagelesen wurde, was eine unbewusste Sache war – als Alex mir erzählte, sie habe einen neuen Charakter namens Vivien Zucker im Kopf, waren wir beide erst mal ziemlich verblüfft, fanden es dann aber sehr schön.

Alex: Dazu muss man wissen, dass ich mir Namen von Charakteren so gut wie nie bewusst aussuche. Meist kommen die Figuren bereits samt einem Namen zu mir. Änderungen gibt es da bloß, wenn es umgekehrt war – wenn ich mir also anfangs bewusst einen Namen ausgedacht habe, dieser von der betroffenen Figur aber so gar nicht angenommen wird und einfach nicht passt. Charaktere, die mit festem Namen in meinem Kopf entstehen, benenne ich später nicht mehr um.
Zurück zum Thema „Kinderwunsch“: Bei mir gab es dieses Thema vor Georg ehrlich gesagt überhaupt nicht. Ich komme aus einer sehr zerrütteten Familie und war mir eigentlich immer sicher, keine eigene Familie gründen zu wollen. Ich war mir lange Zeit nicht einmal sicher, ob ich überhaupt zu einer wirklich engen, langfristigen Partnerschaft fähig bin. So etwas wie ein Idealbild meines Lebens hatte ich nie. Es ging mir also ähnlich wie Georg: Mit ihm hatte ich zuerst den Gedanken, dass eine Familie vielleicht doch toll wäre, musste mich aber später wieder von der Idee verabschieden.

3. Wie haben sich eure Kinderwünsche schließlich innerhalb eurer Beziehung, die durch die ständige Anwesenheit von Krankheit und Behinderung gekennzeichnet ist, gewandelt? Wie hattet ihr euch eure Zukunft mit zwei Kindern zunächst ausgemalt und wie hat sich dieses Bild einer gemeinsamen Zukunft schließlich verändert?

 

 

Alex: Also, was wir immer wussten, war, dass wir niemals eine klassische Familie würden gründen können. Das Thema »gemeinsame Kinder« kam zwischen uns schon sehr früh auf, schon bevor wir überhaupt ein Paar wurden, erst aber bloß als eine reine Blödelei. Es fing damit an, dass wir feststellten, dass wir beide relativ behaarte Menschen sind – äh, keine Ahnung, wie das nun klingen mag, aber als ich Georg zum ersten Mal im T-Shirt sah, sagte ich etwas wie: »Whoa, du hast ja voll den Pelz auf den Armen. Aber mach dir nichts draus, ich bin auch behaarter als meine zwei Brüder.« Worauf wir den Gedanken spannen, dass gemeinsame Kinder von uns wohl als Schafe durchgingen, was zu einer Art Running Gag zwischen uns wurde, der es dann letztlich auch in unsere Beziehung geschafft hat.
In unseren drei Ausbildungsjahren waren wir noch sehr von der Vorstellung überzeugt, dass wir eines Tages zwei gemeinsame Kinder haben würden. Wir wussten, dass es niemals leicht werden würde, da Georgs Erkrankung neurodegenerativ ist, das heißt, er baut mit der Zeit immer mehr ab und hat bereits 2008 die erste Pflegestufe bekommen. Dass wir das nicht würden durchziehen können, wurde uns aber erst nach der Ausbildung endgültig klar, als ich teils berufstätig war, teils aber auch bereits häusliche Pflege gemacht habe, während Georgs Arbeitsfähigkeit immer weiter absank, bis er letztlich ganz ausgegliedert wurde und 2010 in die Pflegestufe III kam. Sowohl was unsere Kräfte als auch den finanziellen Aspekt betrifft, mussten wir uns spätestens ab da vom Gedanken an eine eigene Familiengründung verabschieden.

4. Das Thema Familiengründung ist ja eigentlich ein sehr privates, doch jeder kennt es: Nicht nur Verwandte und Freunde haben trotzdem eine Meinung dazu, sondern auch Fremde tragen ihre Erwartungen von außen an einen heran. Welche Erfahrungen habt ihr gemacht bezüglich solcher äußeren Erwartungen an euch als Paar und einer möglichen Familiengründung?

 

 

Alex: Zum Glück noch keine besonderen. Eine Tante von mir fand es schade, dass wir uns gegen Kinder entschieden haben, eine Tante von Georg wiederum fand es gut – und ansonsten gab es kaum ausgesprochene Meinungen dazu.

Georg: Doch, eine! Und zwar von Jesus. Nein, natürlich nicht leibhaftig, sondern von jemandem, der sich für Jesus gehalten hat und den wir an einer Ulmer Straßenbahnstation getroffen haben. Dieser Mann hat uns dort angesprochen, sich uns als Jesus vorgestellt und nach kurzem Gespräch lautstark zu uns gesagt: »Ihr werdet viele gesunde Kinder haben, weil ich das so will!« Mit den Kindern hat es zwar nicht geklappt, aber ein bisschen prophetisches Potenzial hat er dennoch bewiesen, denn zu diesem Zeitpunkt waren wir noch gar kein Paar.

 

5. Ihr hattet euch eigentlich gemeinsame Kinder gewünscht und musstet dann von diesem Wunsch Abschied nehmen. Welche Spuren hat das bei euch hinterlassen?

 

 

Alex: Bei mir hat es vor allem mein ohnehin schon starkes Bewusstsein dessen verschärft, dass man nicht ausnahmslos alles im eigenen Leben in der Hand hat und manches einfach hinnehmen muss. Und dass ich mich nicht von diesen »Man MUSS für seine Wünsche kämpfen«-Menschen beeinflussen lassen darf, die es tatsächlich immer mal wieder gibt, die uns aber in der Regel nicht nahestehen und mit denen wir daher auch keine Diskussionen über unsere Entscheidungen führen werden.

Georg: Bei mir kam zunächst eine kurze Phase des Bedauerns, dann aber machte ich mir wieder bewusst, dass ich bei meinem Krankheitsbild Glück habe, dass ich überhaupt noch am Leben bin. Ernsthafte Spuren fühle ich daher heute keine mehr; es ist einfach schade, dass es so gekommen ist, belastet mich aber nicht stark.


6. Wenn ihr Freunde oder auch Fremde mit Kindern seht, was geht in euch vor? Gibt es Situationen, die für euch besonders belastend sind?

 

 

Georg: Ehrlich gesagt könnte ich mir heute nicht einmal mehr vorstellen, Vater zu sein, zumindest nicht, solange es für schwerbehinderte und/oder pflegende Eltern keine besseren Hilfestellungen gibt. Daher sehe ich Begegnungen mit Kindern sehr gelassen und empfinde nichts Negatives dabei.

Alex: Hm, ich manchmal schon. Manchmal Bedauern. Manchmal ein bisschen Neid. Manchmal aber auch maßlose Erleichterung – haha, die Kinder brüllen, werfen Dreck, essen Dreck und müssen zu Hause erst mal rundumversorgt werden, während wir einfach ganz gechillt ein Bier trinken können. Wirklich belastend wird es für mich erst dann, wenn gestresste Eltern meinen, unsere mit ihrer Situation vergleichen zu müssen. Auch ein Kind braucht Pflege, das ist wahr – aber selbst dann, wenn man sich diese Situation nicht bewusst ausgesucht hat, ist sie zumindest bei gesunden Kindern temporär. Man sieht sein Kind aufwachsen, beobachtet, wie es immer selbstständiger wird – Pflege aufgrund einer neurodegenerativen Erkrankung geht in die andere Richtung.

7. Was machen Sätze wie »Das könnt ihr nicht verstehen, weil ihr selbst keine Kinder habt« mit euch? Wie reagiert ihr auf Behauptungen, dass man bezüglich Kindern nur mitreden könne, wenn man selber welche habe?

 

 

Alex: Ich muss zugeben, dass ich das eigentlich selbst so sehe. Dass wir nicht vollständig nachempfinden können, wie es sich anfühlt, eigene Kinder zu haben. Wir würden uns daher auch niemals ungefragt in die Erziehung anderer Menschen einmischen – es sei denn natürlich, die Erziehung wäre von Gewalt geprägt. In dem Fall würden wir aber vermutlich gar nicht erst das Gespräch suchen, sondern das Jugendamt informieren.

Georg: Die einzige Ausnahme sind für mich grundsätzliche Dinge. Also, wenn ein Kind sich mir gegenüber zum Beispiel extrem pampig zeigt, spreche ich schon das Kind selbst oder seine Eltern darauf an, was der Grund dafür sein könnte. Manchmal ist es lediglich so, dass das Kind von zu Hause aus nicht viel über Behinderungen weiß und sich mir gegenüber seltsam benimmt, weil es unsicher ist. Das passiert aber eher bei älteren Kindern, jüngere gehen meist sehr offen auf mich zu.

8. Wenn ihr selber Kinder hättet, was wäre euch für eure kleine Familie dann wichtig? Was würdet ihr auf jeden Fall tun wollen und was käme für euch als Familie nicht in Frage?

 

 

Alex: Das ist wieder so etwas, das ich gar nicht richtig beantworten kann. Gewalt käme für uns beide nicht infrage, aber das ist für uns eine Selbstverständlichkeit, die jedem wichtig sein sollte. Aber sonst … keine Ahnung. Ich hätte keine speziellen Erwartungen. Ich würde einfach versuchen, die beste Version von mir für unsere Kinder zu sein, die ich sein kann, und ansonsten schauen, wo wir landen.

Georg: Das sehe ich auch so. Das Wichtigste wären Dinge, die selbstverständlich sein sollten, Liebe und Geborgenheit für das Kind. Materielle Dinge stehen für mich gar nicht im Vordergrund, vielmehr das Zusammengehörigkeitsgefühl. Große Pläne zu schmieden, liegt uns beiden nicht, denn wenn sie dann nicht erfüllt werden können, kann leicht Enttäuschung entstehen. Solange der Mikrokosmos der eigenen Gefühle innerhalb der Familie in Ordnung ist, findet sich der Rest von allein.

9. Welche Maßnahmen wären aus Eurer Sicht denn notwendig, damit Behinderte und Kranke überhaupt dieselben Möglichkeiten der Familiengründung und des Familienalltags haben wie Menschen ohne Einschränkung?


Georg
: Diese Frage ist extrem schwer zu beantworten, denn da wäre aus meiner Sicht vor allem eines wichtig, was die deutsche Bürokratie meiner Erfahrung nach nicht beherrscht: den Einzelfall sehen und auf den Einzelfall reagieren.


Alex: Das sehe ich auch so. Da eine allgemeingültige Antwort zu geben, ist schwer. In unserem speziellen Fall wären Maßnahmen nötig, die völlig utopisch sind. Die Übernahme der rein pflegerischen Tätigkeiten durch einen Pflegedienst, ohne dass uns direkt das Pflegegeld dafür abgezogen wird, denn Georg braucht mich ja trotzdem rund um die Uhr. Eine Hilfe für Einkäufe, bis das Kind sicher etwas weitere Strecken zu Fuß gehen kann, denn ich kann nicht gleichzeitig einen Kinderwagen und einen Rollstuhl durch die Stadt und durch Supermärkte schieben. Eine flexible Kinderbetreuung, die zu jeder Tages- und Nachtzeit buchbar ist, falls Georg spontan ins Krankenhaus muss oder sich die Wartezeiten bei Standard-Arztterminen über Stunden hinziehen. Ich glaube nicht, dass es so etwas zu unseren Lebzeiten geben wird. Und sollte es je eine deutsche Regierung geben, die mutig genug ist, solche Hilfen auch nur teilweise verbindlich durchzusetzen, käme garantiert sowohl aus der Bevölkerung als auch von populistischen Politikern die Aussage: »Wenn die aus gesundheitlichen Gründen nicht selber auf ihr Kind aufpassen können, warum müssen die ihre kaputten Gene auch noch weitergeben?«

Georg: Ich denke auch, dass es so kommen würde. Pflegebedürftigkeit drängt einen Menschen in mehrfacher Hinsicht an den Rand der Gesellschaft, insbesondere, wenn die Pflege und Assistenz auch noch innerfamiliär übernommen wird, und so bitter es klingt: Ein Kind in diese Situation zu setzen, empfänden wir auch nicht als fair.

Bitte vervollständigt einmal den Satz in möglichst kurzer, prägnanter Weise:

Wenn wir Kinder hätten, dann… wären wir aufgrund fehlender ernsthafter Hilfen für schwerbehinderte/pflegende Eltern innerhalb weniger Wochen am Ende unserer Kräfte.

 
 
Vielen lieben Dank für eure Offenheit liebe Alex und lieber Georg! Ich fand eure Antworten wirklich unglaublich spannend, denn sie haben mir noch einmal eine ganz neue Perspektive eröffnet. Ich wünsche euch für die Zukunft alles Gute!