Ich bin Tochter einer Verkäuferin und eines Elektrikers und ich bin bald promoviert. Die Doktorarbeit ist abgegeben und jetzt beginnt definitiv ein neuer Lebensabschnitt. Zeit für mich, zurückzublicken. Ein wenig erhoffe ich mir dadurch, dass ich so besser herausfinde, wohin es nun für mich gehen soll.

Arbeiterkind. Die Bedeutungszuschreibungen sind facettenreich. Ich bin ein Arbeiterkind. Das ist weder gut, noch schlecht, es ist einfach eine Tatsache. Meiner Herkunft bin ich mir stets bewusst gewesen. Der Weg über das Abitur, das Studium bis zur Promotion fühlte sich für mich immer ganz natürlich und zugleich völlig fremd an. Meine Eltern haben mich niemals in irgendeiner Weise von diesem Weg abhalten wollen. Forciert haben sie ihn ebenso wenig. Diesen Weg, den ich da bis heute gegangen bin, der ist das Resultat meiner persönlichen Entscheidungen und darin hat mich meine Familie, haben mich meine Freunde immer unterstützt, aber die Entscheidungen musste ich stets allein fällen. Mein Weg war nicht gerade, sondern voller Verzweigungen, mit viel Gegenverkehr, aber auch mit vielen Mitreisenden.

Man könnte mich wohl als entscheidungsfreudig bezeichnen. Es fiel mir noch nie schwer, mich festzulegen. Irgendwie weiß ich einfach immer recht schnell, ob etwas zu mir passt oder nicht, ob es etwas tun oder lassen will. Es ist eine spezifische Mischung aus Bauchgefühl und rationalem Entscheidungsprozess. Es muss für Kopf und Bauch stimmig sein. So war es schon immer. Leider heißt das nicht, dass meine Entscheidungen immer zum leichtesten Weg führten. Nicht selten hielt die Welt da draußen Überraschungen für mich bereit, die mich fassungslos zurückließen.

Jessica lernt interessenbezogen

Eine Alternative zum Abitur erschien mir undenkbar. Ich war nicht außergewöhnlich begabt, kein Wunderkind. Aber ich war definitiv nicht dumm und was noch viel wichtiger war: Ich war neugierig.

Auf einem meiner Zeugnisse stand einmal „Jessica lernt interessenbezogen„. Das war als Kritik gemeint. Ich würde nur lernen, wenn mich etwas wirklich interessiere, sonst nicht. In gewisser Weise stimmt das auch. Doch ist das nicht eigentlich ganz wunderbar? Schon immer habe ich in mir drin die Motivation gefunden, um etwas zu tun. Äußere Anreize waren stets von sekundärer Bedeutung. Wann immer ich ehrgeizig und wissbegierig war, wann immer ich unbedingt etwas wollte, dann nicht wegen des Lobes Dritter, sondern weil in mir drinnen alles danach verlangte. Lob ist wunderschön. Lob ist sogar wichtig, um auch Durststrecken durchzuhalten. Doch Lob kann niemals meine intrinsische Motivation sein. So funktioniere ich nicht. Auch heute nicht.

Mein Leben habe ich mir dadurch nicht immer leicht gemacht. „Hätte hätte Fahrradkette“ könnte ich durchaus intensiv spielen.

Hätte ich da nur mehr gelernt. Hätte ich dieses bloß gemacht. Hätte ich jenes wenigstens ein bisschen mehr getan. 

Hab ich aber nicht.

Ernsthaft bereuen tue ich schlicht nichts. Ich neige nicht allzu sehr dazu, Dinge zu bereuen, die ich ja doch nicht mehr ändern kann. Ständig zu bereuen, bedeutet für mich, in der Vergangenheit zu leben – und da habe ich noch nie gelebt  und will es auch nicht. Mit Blick nach vorn gerichtet, beziehe ich jedoch meine Erfahrungen der Vergangenheit in mein gegenwärtiges Tun mit ein. Im Nachhinein weiß man manches eben doch besser. Schon längst lerne ich nicht mehr rein interessenbezogen. Denn ich habe gelernt, dass zur Kür eben auch die Pflicht gehört.

Was ich aber auch gelernt habe, ist, dass selbst in der Pflicht überraschend oft kleine Schätze verborgen liegen. Ich bin begeisterungsfähig, selbst bei Dingen, bei denen ich es selbst niemals erwartet hätte. So kann ich mich mit großer Leidenschaft auch in Tabellen und Zahlen stürzen, Fakten sortieren, Ursachen und Wirkungen beinahe unendlich analysieren, theoretische Details diskutieren oder hypothetische Probleme beleuchten – solange ich den großen Sinn dahinter leuchten sehen kann. Solange ich beim Blick in den Spiegel noch immer einen Menschen sehen kann, der das tut, was ihn ausmacht, kann ich so falsch nicht liegen.

Ich Arbeiterkind – Eine Bürde?

Ich kann nicht für alle Arbeiterkinder sprechen, die ihren Weg in die akademische Welt gefunden haben. Ich kann nur meinen Weg in Worte fassen. Ich kann nur versuchen, meine Erfahrungen und Beobachtungen einzusortieren und Thesen darüber entwickeln, warum manches nur so und kaum anders verlaufen konnte. Mein Weg ist nach wie vor nicht der Übliche, doch allzu außergewöhnlich und besonders ist er auch wieder nicht. Es gibt viele wie mich. Viele Arbeiterkinder machen Abitur und studieren. Auch unter den Promovierenden bin ich kein bizarrer Sonderling.

Und doch ist der Weg des Arbeiterkindes in die Wissenschaft ein anderer. Der Weg mag von außen vergleichbar wirken mit all den Wegen, welche durch Akademikerkinder bestritten werden. Doch wird der Weg anders empfunden, anders bewältigt, anders gegangen. Es liegen andere Steine im Weg, andere Mauern ziehen sich entlang des Weges hoch. Auch von Arbeiterkind zu Arbeiterkind gibt es Unterschiede. Manche Unterschiede sind substanziell, andere hingegen nur graduell.

Nie habe ich es als ernsthaft als Bürde empfunden, mit anderen Voraussetzungen gestartet zu sein. Meine Voraussetzungen sind nicht prinzipiell besser oder schlechter, um in der Wissenschaft zu bestehen. Jedoch sind sie anders. Ich rede nicht von Einzelfällen, sondern von strukturell anders gelagerten Rahmenbedingungen, welche mir mal mehr, mal weniger bewusst waren.

Und dann bin da ich. Das Ich, welches Entscheidungen zu treffen und Wege zu gehen hat. Keine äußeren Rahmenbedingungen, keine festgefahrenen Strukturen, keine engstirnigen Menschen, welche die Welt in festen Schubladen einteilen, vermochten es je meine Entscheidungen vorweg zu nehmen. Sie war immer da, die Freiheit zu entscheiden. Die Freiheit anders zu entscheiden. Ich habe oft anders entschieden. Weil ich es musste, um weiterhin ich selbst zu sein.

Wir kommen alle nicht aus unserer Haut heraus. Wir sind keine freien Individuen, die vollkommen losgelöst entscheiden und handeln. Ich schon gar nicht. Die Eingebettetheit meines Seins hat mich allerdings oftmals viele Wege gar nicht erst sehen lassen. Es gab und gibt so unglaublich viele Möglichkeiten, so viele Wege. Doch ich habe kaum einen von ihnen auch nur gesehen. Schon strukturell gesehen, war mir der Blick auf bestimmte Optionen schlicht versperrt. Ich habe mich gar nicht erst für oder gegen sie entscheiden können. Ich habe sie nicht gekannt. Von vielen habe ich viel zu spät erfahren, manche kenne ich bestimmt immer noch nicht. Zugleich habe ich aber andere Wege gesehen und ich war in anderer Weise befähigt, die für mich richtigen Entscheidungen zu treffen.

Der Ausflug eines Arbeiterkindes in die Wissenschaft #promovierenmitkind #arbeiterkind | Terrorpüppi | Reflektiert, bedürfnisorientiert, gleichberechtigt