Wer nicht ins System passt, wird schnell entweder passend gemacht oder hinausgedrängt. Doch gerade für Kinder mit Besonderheiten wird ersteres nicht funktionieren letzteres kann kaum wünschenswert sein. Schenkt man der öffentlichen Rhetorik Glauben, dann ist Inklusion gesellschaftliches Ziel und längst Alltag großer Bildungseinrichtungen. Ja, wenn man dem Glauben schenkt. Nina ist heute etwas ernster unterwegs, denn es geht um ihren Sohn – und alle Eltern wissen: Wenn es um das Wohl der eigenen Kinder geht, da verstehen wir Eltern nun einmal keinen Spaß. 
 

Inklusion ist so eine Sache, die in der Praxis nur schwer funktioniert

Heute war ein schwerer Tag, denn heute schickte ich einen Brief an die Schule, in dem wir darum bitten, dass unser Sohn das Jahr wiederholen darf. Eigentlich sollte diese Entscheidung nicht Aufgabe der Eltern sein und sie fiel uns alles andere als leicht. Und ganz eigentlich, bin ich sauer auf die Schule, enttäuscht von den Lehrern und auch ein wenig frustriert vom Bildungssystem.

Damit man versteht, warum ich so fühle, möchte ich ein wenig ausholen. Als ich meine Frau kennenlernte, war der Große gerade vier Jahre alt. Bereits im Kindergarten zeigte er, dass ihm viele Dinge nicht so leicht fielen wie anderen. Besonders mit ruhig sitzen und zuhören, damit konnte er so gar nichts anfangen. Ein lebhaftes Kind, würde man sagen. Aber abgesehen von seinem Bewegungsdrang hatte er Schwierigkeiten mit der Konzentration. Nun werden einige Leser laut aufschreien, denn es ging zu Ärzten und er musste einige Tests mitmachen. Am Ende war klar: er hat ADHS – und Probleme in der Wahrnehmung. Ja, ich weiß, jedes ein wenig hibbelige Kind am Spielplatz hat ADHS und sie glauben nicht, wie viele gut gemeinte Ratschläge ich von Großeltern, Bekannten und wildfremden Leuten über die Jahre bekommen habe. Wie oft ich gehört habe, dass es AHDS nicht gibt, wie oft ich über das teuflische Ritalin belehrt wurde, wie oft mir Globuli und Schüsslersalze angeboten wurden, wie oft wir uns rechtfertigen mussten, dass wir das Kind…

Ich will auch gar nicht über ADHS an sich diskutieren. In einer Zeit, in der selbst einigermaßen gebildete Menschen die Existenz von Viren und die Wirkung von Medikamenten in Frage stellen, in so einer Zeit ist eine Stoffwechselerkrankung – denn genau das ist ADHS – echt schwer zu erklären. Wir haben auch nicht sofort zu Ritalin gegriffen, viele Jahre lang verfolgten wir konsequent einen anderen therapeutischen Weg, bis er in der dritten Klasse der Grundschule komplett den Anschluss verlor. Er bekam die Möglichkeit zur medikamentösen Behandlung.

Bereits im Kindergarten hatten wir versucht, für ihn eine Integrationskraft (I-Kraft) zu bekommen. Die Leitung des Kindergartens war immer freundlich, aber immer wieder wurden unsere Fragen abgewehrt und so kam es, dass bis zum letzten Kindergartentag nichts passiert war. Bei der Anmeldung in der Grundschule hat meine Frau die bekannte Diagnose angegeben. Die Probleme mit seinem Lernerfolg traten bereits nach wenigen Wochen zu Tage. Auch hier wurde unser Anliegen, ihn eine Lernbegleitung zur Seite zu stellen immer wieder verschoben. Lehrer, Direktoren, Sozialarbeiter suchten Lösungen – die allesamt keine Behandlung von ADHS in Betracht zogen. Die Lösungen wurden halbherzig und inkonsequent umgesetzt und hatten somit keine Chance auf Erfolg. Auch die Grundschule hat geschafft, das eigentliche Problem vor sich hin zu schieben und somit passierte: Nichts.

Mein Sohn wurde trotz schlechter Noten bis in die sechste Klasse weiter geschoben. Die Schule hat bis heute nicht auf seine Lernschwierigkeiten reagiert. Es wurde nicht versucht, festzustellen, welche Ursachen sein Problem hat. Stattdessen haben wir neue, halbherzige Vorschläge bekommen.

Heute habe ich also einen Brief an die Schule abgeschickt. Einen Brief, um meinem Sohn die Möglichkeit zu geben, die Klasse zu wiederholen und eine Unterstützung im Unterricht zu bekommen. Über die Jahre, die wir nun schon mit ADHS in der Familie leben, haben wir viel gelernt. Vor allem, dass Schulen, Lehrer, Sozialarbeiter und Ämter nicht wissen, dass ADHS eine seelische Behinderung ist. Es ist nicht „er kann sich nicht konzentrieren, weil er es nicht will“. Er kann es nicht, weil sein Gehirn es nicht kann. Ich habe einen Brief abgeschickt, um der Schule zu sagen, dass mein Kind eine Behinderung hat.

Barrierefreiheit und Inklusion – moderner institutioneller Schmuck

Haben Sie schon mal etwas von Barrierefreiheit gelesen? In unserer Gegend schmücken sich Schulen sehr gerne damit. Auch Inklusion ist ein Schlagwort, das Schulen beim Tag der offenen Tür groß an die Fahnen heften. Ja, es gibt an den meisten Schulen ein Gebäude, das mit dem Rollstuhl zugänglich ist und dort auch eine Toilette, die rollstuhl-tauglich ist. Aber da ist meistens schon ziemlich Schluss mit Inklusion. Unterricht ist kaum auf seh- und hörbehinderte Schüler ausgerichtet und auf Lernbehinderungen sind weder die Klassen, noch die Lehrer vorbereitet. Und selbst Schulen, die darauf Rücksicht nehmen, vergessen oft, dass auch Eltern Barrieren überwinden müssen. In der Schule anzurufen, um ein Kind wegen Krankheit vom Unterricht abzumelden, ist für viele Menschen einfach nicht möglich. Das trifft nicht nur Menschen mit Behinderung. Es wird erwartet, dass Eltern Briefe lesen und verstehen können.

Inklusion ist ein tolles Wort. Schulen, Behörden, Arbeitgeber verwenden es gerne, um die soziale Seite zu betonen, aber ich habe Inklusion nur selten erlebt. Meistens kehrt man das Problem so lange unter dem Teppich, bis Gras darüber wächst.