Inklusion ist so eine Sache, die in der Praxis nur schwer funktioniert
Damit man versteht, warum ich so fühle, möchte ich ein wenig ausholen. Als ich meine Frau kennenlernte, war der Große gerade vier Jahre alt. Bereits im Kindergarten zeigte er, dass ihm viele Dinge nicht so leicht fielen wie anderen. Besonders mit ruhig sitzen und zuhören, damit konnte er so gar nichts anfangen. Ein lebhaftes Kind, würde man sagen. Aber abgesehen von seinem Bewegungsdrang hatte er Schwierigkeiten mit der Konzentration. Nun werden einige Leser laut aufschreien, denn es ging zu Ärzten und er musste einige Tests mitmachen. Am Ende war klar: er hat ADHS – und Probleme in der Wahrnehmung. Ja, ich weiß, jedes ein wenig hibbelige Kind am Spielplatz hat ADHS und sie glauben nicht, wie viele gut gemeinte Ratschläge ich von Großeltern, Bekannten und wildfremden Leuten über die Jahre bekommen habe. Wie oft ich gehört habe, dass es AHDS nicht gibt, wie oft ich über das teuflische Ritalin belehrt wurde, wie oft mir Globuli und Schüsslersalze angeboten wurden, wie oft wir uns rechtfertigen mussten, dass wir das Kind…
Ich will auch gar nicht über ADHS an sich diskutieren. In einer Zeit, in der selbst einigermaßen gebildete Menschen die Existenz von Viren und die Wirkung von Medikamenten in Frage stellen, in so einer Zeit ist eine Stoffwechselerkrankung – denn genau das ist ADHS – echt schwer zu erklären. Wir haben auch nicht sofort zu Ritalin gegriffen, viele Jahre lang verfolgten wir konsequent einen anderen therapeutischen Weg, bis er in der dritten Klasse der Grundschule komplett den Anschluss verlor. Er bekam die Möglichkeit zur medikamentösen Behandlung.
Bereits im Kindergarten hatten wir versucht, für ihn eine Integrationskraft (I-Kraft) zu bekommen. Die Leitung des Kindergartens war immer freundlich, aber immer wieder wurden unsere Fragen abgewehrt und so kam es, dass bis zum letzten Kindergartentag nichts passiert war. Bei der Anmeldung in der Grundschule hat meine Frau die bekannte Diagnose angegeben. Die Probleme mit seinem Lernerfolg traten bereits nach wenigen Wochen zu Tage. Auch hier wurde unser Anliegen, ihn eine Lernbegleitung zur Seite zu stellen immer wieder verschoben. Lehrer, Direktoren, Sozialarbeiter suchten Lösungen – die allesamt keine Behandlung von ADHS in Betracht zogen. Die Lösungen wurden halbherzig und inkonsequent umgesetzt und hatten somit keine Chance auf Erfolg. Auch die Grundschule hat geschafft, das eigentliche Problem vor sich hin zu schieben und somit passierte: Nichts.
Mein Sohn wurde trotz schlechter Noten bis in die sechste Klasse weiter geschoben. Die Schule hat bis heute nicht auf seine Lernschwierigkeiten reagiert. Es wurde nicht versucht, festzustellen, welche Ursachen sein Problem hat. Stattdessen haben wir neue, halbherzige Vorschläge bekommen.
Heute habe ich also einen Brief an die Schule abgeschickt. Einen Brief, um meinem Sohn die Möglichkeit zu geben, die Klasse zu wiederholen und eine Unterstützung im Unterricht zu bekommen. Über die Jahre, die wir nun schon mit ADHS in der Familie leben, haben wir viel gelernt. Vor allem, dass Schulen, Lehrer, Sozialarbeiter und Ämter nicht wissen, dass ADHS eine seelische Behinderung ist. Es ist nicht „er kann sich nicht konzentrieren, weil er es nicht will“. Er kann es nicht, weil sein Gehirn es nicht kann. Ich habe einen Brief abgeschickt, um der Schule zu sagen, dass mein Kind eine Behinderung hat.
Barrierefreiheit und Inklusion – moderner institutioneller Schmuck
Haben Sie schon mal etwas von Barrierefreiheit gelesen? In unserer Gegend schmücken sich Schulen sehr gerne damit. Auch Inklusion ist ein Schlagwort, das Schulen beim Tag der offenen Tür groß an die Fahnen heften. Ja, es gibt an den meisten Schulen ein Gebäude, das mit dem Rollstuhl zugänglich ist und dort auch eine Toilette, die rollstuhl-tauglich ist. Aber da ist meistens schon ziemlich Schluss mit Inklusion. Unterricht ist kaum auf seh- und hörbehinderte Schüler ausgerichtet und auf Lernbehinderungen sind weder die Klassen, noch die Lehrer vorbereitet. Und selbst Schulen, die darauf Rücksicht nehmen, vergessen oft, dass auch Eltern Barrieren überwinden müssen. In der Schule anzurufen, um ein Kind wegen Krankheit vom Unterricht abzumelden, ist für viele Menschen einfach nicht möglich. Das trifft nicht nur Menschen mit Behinderung. Es wird erwartet, dass Eltern Briefe lesen und verstehen können.
Inklusion ist ein tolles Wort. Schulen, Behörden, Arbeitgeber verwenden es gerne, um die soziale Seite zu betonen, aber ich habe Inklusion nur selten erlebt. Meistens kehrt man das Problem so lange unter dem Teppich, bis Gras darüber wächst.
Als Lehrerin muss ich mich da auch mal zu Wort melden. Es ist schon richtig, dass Inklusion an manchen Schulen nicht vernünftig umgesetzt werden kann, denn die Gegebenheiten sind oftmals nicht da. Hier sollten ganz andere Hebel in Bewegung gesetzt werden, aber auch in höheren Instanzen mahlen die Mühlen leider langsam.
Es ist richtig, dass Lehrer auf Inklusion nicht gut vorbereitet werden – sie müssen es sich quasi selbst beibringen, aneignen und nach Möglichkeiten schauen. In gewisser Hinsicht ist das auch richtig so, denn jeder Schüler/jede Schülerin ist anders. Dies bedeutet aber auch, dass ich mich auf jeden einzeln einstellen muss und entsprechend Material aufbereiten muss, das natürlich SO nicht in Lehrwerken zu finden ist. Was das für einen Mehraufwand bedeutet, ist vielleicht nachvollziehbar und ehrlich gesagt, im normalen Alltag mit voller Konsequenz nicht immer zu leisten. Generell richte ich meinen Unterricht ohnehin ganzheitlich aus und sorge für ausreichend Differenzierung, berücksichtige Nachteilsausgleiche und mache meistens den großen Zampano. Meine Schüler mögen das und zeigen mir immer wieder, dass ihnen der Unterricht Spaß macht. Aber es darf auch Tage geben, an denen der große Zampano in den Hintergrund rückt und ein Unterricht nicht jede einzelne Inklusions-Ebene anspricht, denn auf Dauer kann ich das einfach nicht leisten. Spezielle Unterstützung, die eigentlich durch sonderpädagogische Förderkräfte für Kinder mit Besonderheiten da sein sollte, ist im Alltag nämlich sehr gering…
Ich verstehe natürlich auch den Bedarf und die Sorge der Eltern, denn niemand ist wichtiger als das eigene Kind und dafür kämpft man auch… Aber ein bißchen bitte ich auch um Nachsicht, denn auch ich als Lehrkraft bin ein Mensch, der zwar sein Bestes gibt, am System aber auch scheitern kann….
Liebe Grüße,
Yvonne
Hallo Yvonne,
Ich kann deinen Standpunkt weitgehend verstehen, das ist der Grund, warum ich nicht einfach "die LehrerInnen" geschrieben habe, sondern stets Lehrer und Schule miteinander nenne. Viele engagierte Lehrer werden von den Strukturen und Abläufen der Schulen und Schulbehörden gebremst.
Andererseits muss ich eines bemerken: wann immer irgendwo über Lernbehinderung, Lernschwäche und besonders über ADHS geschrieben wird, meldet sich einE LehrerIn und verteidigt mit wehenden Fahnen den eigenen Berufstand. Meine Erfahrungen mit Lehrern sind gemischt,vor allem, da meine drei schulpfichtigen Kinder, sehr unterschiedliche Situationen mitbringen. Leider habe ich noch nie eine Lehrkraft erlebt, die bereit war, sich über die Einschränkung des betroffenen Kindes zu informieren. Stattdessen erlebe ich seit Jahren immer Halbwissen in den Elterngesprächen.
Ja,es gibt engagierte LehrerInnen und davon sind viele sicher wunderbar im Umgang mit Kindern, die aus der Masse fallen. Leider ist mir im Bereich der Regelschulen noch nie so eine Person begegnet.
Liebe Grüße, Nina