Toll dachte ich, die Medien greifen das Berliner Behördenversagen auf, mit dem wir Familien insbesondere in Berlin Mitte derzeit zu kämpfen haben. So berichtet der Tagesspiegel jüngst: „Eltern warten monatelang auf Geburtsurkunden“

Allerdings. Dabei warteten wir ja auch nur 9 Wochen auf die Geburtsurkunde unseres Sohnes. Es hätte sogar noch länger gedauert, wenn wir nicht Druck gemacht hätten. So toll, wenn alles schnell und unproblematisch geht.


Bisher habe ich mich ja im Wesentlichen nur über Twitter geärgert.

Da das Standesamt 6-8 Wo für die Geburtsurkunde braucht, werde ich mein Elterngeld erst sehen, wenn der Mieter uns schon rausgeworfen hat.

— Jessi (@Terrorpueppi13) 26. März 2017



Der Sohn ist 8 Wochen alt. Ich habe noch immer keine Geburtsurkunde. Standesamt Berlin Mitte.

Am Tel: haben gerade keinen Mitarbeiter mehr

— Jessi (@Terrorpueppi13) 4. Mai 2017

 

Beim Standesamt angerufen. Sie kannten zumindest Sohnemanns Namen. Jetzt suchen sie seine Akte und rufen zurück ?

— Jessi (@Terrorpueppi13) 5. Mai 2017

 

Standesamt Berlin Mitte. Bearbeitet jetzt die Geburtsurkunden von Anfang Februar geborenen Kindern.

— Jessi (@Terrorpueppi13) 5. Mai 2017

 

Hatte ich schon erwähnt, dass mich das Standesamt gefragt hatte, ob es denn dringend sei?????

— Jessi (@Terrorpueppi13) 5. Mai 2017

Doch damit ist jetzt Schluss. Also das Ärgern ausschließlich über Twitter. Denn die zuständige Stadträtin Sandra Obermeyer hat sich ja offensichtlich meilenweit von der Lebenswirklichkeit der Familien ihres Bezirks entfernt. Da jammert die Dame doch tatsächlich:

Durch die hohe Arbeitsbelastung sind mehrere Mitarbeiter langfristig erkrankt. Auch deshalb ärgert mich das Bashing auf das Standesamt“. 


Eltern wie wir. Wir bashen nicht einzelne Standesamtmitarbeiterinnen und -mitarbeiter, wenngleich es einigen an der notwendigen Kompetenz bzw. Sorgfalt fehlen mag („Oh, da habe ich ja ihre Religionszugehörigkeit vergessen“ oder „oh stimmt, da fehlen noch weitere Vornamen“) oder an Feingefühl und Kenntnis der Notwendigkeiten einer Geburtsurkunde mangelt („Brauchen Sie die Geburtsurkunde wirklich dringend?).

Aber ja, wir bösen Eltern bashen das Standesamt als solches. Und jetzt, dank Ihnen Frau Obermeyer, kann ich sogar jemanden ganz konkret als Einzelperson, die ja politisch für die Misere verantwortlich ist, auch namentlich bashen. Nämlich Sie. 


Bashen ist übrigens ein Wort, dass in meinem normalen Sprachgebrauch eigentlich keinen Platz findet. Es ist nämlich wunderbar abwertend und zugleich unkonkret. Böse sind die anderen. Und ungerecht. Was fällt uns Eltern nur ein, beim Standesamt beispielsweise anzurufen und mal nachzufragen. Oder gar auf die Dringlichkeit hinzuweisen. Wir verständnislosen Eltern wir. Schließlich haben wir doch genug andere Optionen als ein Standesamtbashing.


Wir könnten zum Beispiel einen Kredit aufnehmen. Oder erst Kinder in die Welt setzen, wenn wir für alle Eventualitäten seitens der Behörden ausreichend finanzielle Polster angelegt haben. Reiche Großeltern sind natürlich auch keine immer eine Option.

Alternativ kann man auch den Vermieter und andere Gläubiger anbetteln. Die sollen sich mal nicht so haben. So eine Miete oder eine andere Rechnung kann doch auch mal ein paar Monate liegen bleiben. Da ist schließlich das arme Standesamt Berlin Mitte und so.

Wissen Sie was Frau Obermeyer? So eine Geburtsurkunde ist Voraussetzung dafür, dass ich den zweiten Teil meines Mutterschaftsgeldes ausgezahlt bekomme, also so ca. einmal meine monatliche Miete. Ohne Geburtsurkunde kann ich auch keinen Elterngeldantrag stellen, von dem ich bereits weiß, dass ich wohl noch länger auf Bearbeitung werde warten müssen als bei der Geburtsurkunde. Auch das Kindergeld können wir nicht beantragen. Dazu brauchen wir nämlich die Steueridentifikationsnummer. Das Bundeszentralamt für Steuern gibt uns die allerdings erst, wenn Ihr Standesamt die Geburt meines Sohnes dort gemeldet hat. Jetzt, nachdem wir die Geburtsurkunde nach sage und schreibe 9 Wochen haben, ist diese Meldung allerdings nicht gleich mit erfolgt. Das Bundeszentralamt teilte uns sogar telefonisch mit, dass dies in Berlin derzeit noch einmal einige Wochen dauern könne.

Ich fasse gerne noch einmal zusammen: Kein Mutterschaftsgeld für den Zeitraum nach der Geburt, kein Kindergeld, kein Elterngeld und zwar über mehrere Monate hinweg.

Verschärft wird das ganze in unserem Fall nochmal durch die Tatsache, dass auch der Papa Elterngeld beantragen wird – unter anderem für die ersten Monate. Also noch einmal: Kein Elterngeld.

Viele Familien leben Monat für Monat sowieso schon finanziell am Limit, haben keine Möglichkeiten, groß Ersparnisse aufzutürmen. Da ist jeder Euro wichtig – und zwar nicht erst irgendwann, sondern in dem Monat, in dem mit ihm gerechnet worden ist.

Die wenigsten bashen das arme Standesamt, weil es ein, zwei Tage länger braucht. Ja selbst zwei Wochen wären für viele (nicht für alle!) noch verschmerzbar. Doch wir reden hier von Monaten! Ich sage es gerne noch einmal: MONATE. Elterngeld wird rückwirkend sogar nur drei Monate gezahlt. Merken Sie was? Das ist kein Bashing. Das sind unzumutbare Umstände. Es geht hier um Existenzen!

Wir hätten unsere Geburtsurkunde noch immer nicht, wenn wir nicht sanften Druck gemacht hätten. ja, sanften. Wir haben niemanden angeschrien, wir haben niemanden bedroht. Wir haben nachgefragt. und wir haben auf die Dringlichkeit hingewiesen. Unser Sohn ist erst im März geboren worden. Wir hätten also nochmal bestimmt vier weitere Wochen gewartet, wenn wir nicht aktiv geworden wären.

Aber hey, Eltern wie wir sollen uns mal nicht so haben. Das ist doch schließlich das arme Standesamt Berlin Mitte.

Liebe Frau Obermeyer und all die anderen Verantwortlichen. Ach machen wir uns doch nichts vor, am Ende sind sowieso immer die anderen verantwortlich. Also noch einmal von vorne: Liebe unbekannte Verantwortliche, lieber unbekannter Verantwortlicher, wie kommt es denn eigentlich zu der hohen Arbeitsbelastung? Und war die Personalsituation nicht doch womöglich schon etwas früher absehbar? Also ich zum Beispiel habe auch 2013 schon drei Wochen auf die Geburtsurkunde meiner Tochter gewartet. Schnelligkeit ist also schon damals ein Problem gewesen. Sie wissen das vielleicht nicht, aber es gibt etliche Standesämter in der Bundesrepublik, die so eine Geburtsurkunde innerhalb von TAGEN ausstellen. Tage. Nicht Wochen. Nicht Monate.


Terrorpüppi | Reflektiert, bedürfnisorientiert, gleichberechtigt | Standesamt Berlin Mitte oder auch: Berliner Behördenversagen de luxe. Ein Rant
 


Sie finden keine ausgebildeten Standesbeamte auf dem Arbeitsmarkt? Dann bilden sie aus und zwar zahlreich und rechtzeitig. Nur so als kleiner Tipp am Rande.
Und warum kündigen Ihre Standesbeamten eigentlich? Was? Wegen der hohen Arbeitsbelastung?Wäre ich Standesbeamte und mein Arbeitgeber wäre so dermaßen unfähig, würde ich vermutlich auch kündigen. Aber ist das dann meine Schuld oder nicht vielleicht doch eher Ihre?

Wenn tatsächlich die verbliebenen Standesbeamten Überstunden und Wochenendarbeit nun leisten müssen, dann tun mir diese durchaus leid. Doch Schuld trage ich dafür nicht. Auch tiefste Dankbarkeit muss ich nun nicht haben. Mir geht es nämlich nicht um diese letzten Glieder der Kette. Diese verbliebenen Kollegen müssen das Behördenversagen an der Front ausbaden. Auf persönlicher Ebene tun mir diese Kollegen leid, aber das ändert nichts, aber auch rein gar nichts an meiner Enttäuschung, ja meiner Wut gegenüber Ihrer Institution.

Frau Obermeyer ist laut Tagesspiegel ratlos. Eltern wie wir aber stehen am finanziellen Abgrund. Wegen ihrer Ratlosigkeit.