Ich möchte vor dem Hintergrund einer konkreten Situation allgemein etwas über das Thema Grenzen, Empathie, Frustration und Aggression schreiben. In meinem Text wage den Versuch, mich in der Mitte zu positionieren. Eine Haltung jenseits  von „alles egal“ und „du musst tun, was ich sage, sonst…“.

Anstoß zum Schreiben meines Artikels ist dieser Beitrag einer Mutter. Sie wurde auf Grund ihrer dreijährigen, scheinbar intensiv schreienden Tochter nach wohl zehnminütigem Schreien im Kassenbereich aus einem Supermarkt geschmissen. Zunächst empörte ich mich innerlich über diesen Supermarkt als ich die Überschrift las.

Es geht hier nicht um die Bewertung dieser konkreten Mutter, denn ihre Beweggründe und ihre Geschichte kenne ich natürlich nicht, aber ich benutze ihre öffentliche Darstellung als Aufhänger, um indirekt über das Konzept UNERZOGEN, aber vornehmlich ganz allgemein über Empathie, Grenzen und Aggressionen zu sprechen.

 

Unerzogen

Mit  dem Lesen der Kommentare ärgerte ich mich zunehmend über die dort angeführte Haltung „unerzogen“. Pädagogische Konzepte sind zugebener Maßen nicht mein Fachgebiet und so lese ich einfach das, was mir im Alltag begegnet.

Bei den Kommentaren des Supermarkt- Artikels sind viele der Meinung, ein Kind brauche immer die volle Möglichkeit zum Ausdruck seiner Gefühle. Unabhängig davon, wen das warum stört. Grenzen seien künstlich und Kinder sollten nicht mit solch einer Zementierung eines Machtgefälles aufwachsen. Nicht dass es missverstanden wird: Kinder müssen natürlich von ihren Eltern immer in ihren Gefühel begleitet werden.

Ich hatte zuvor einen wunderbaren Beitrags von unverbogen kindsein gelesen. Die Autorin Fiona beschreibt sehr verständlich, wie sie mit ihrer Tochter umgeht: in Beziehung, aber sich ihrer Verantwortung als Mutter bewusst. Später las ich, dass sie auch unerzogen „angehört“. Das verwirrte mich, weil mir das so fundamental verschieden vorkam zu den Kommentaren unter dem Supermarkt- Artikel. Wie das mit solchen Konzepten so ist: jeder macht was Individuelles daraus. Daher halte ich einen Diskurs darüber auch für wichtig.

Ich habe den Eindruck, dass sich unter „unerzogen“ doch einige Eltern bewegen, die auf Grenzen komplett verzichten.  Titel wie „Warum wir keine Grenzen brauchen“ treffen diesen Nerv. Der Begriff der Grenzen scheint ein rotes Tuch für viele. Das Kind entscheidet alles alleine. Ich verstehe den Ansatz, dass ein Kind nur für sich entscheiden kann, was es braucht. Ich frage mich aber schon, woher die Angst kommt, einem Kind automatisch mit Grenzen zu schaden. Einfluss wird sofort als Macht und destruktive Hierarchie ausgelegt. Sobald Eltern Regeln vorgeben, würden sie erziehen und Erziehung schade Kindern automatisch.

Ich stimme insofern absolut zu, wenn es darum geht, normative Grenzen zu setzen. Nichts sollte aus dem Grund gemacht werden, „weil man das eben so tut“.  „Weil ich das sage“ ist kein Grund. Ich plädiere dafür, dass man sich zunächst darüber verständigt, was man unter Grenzen versteht.

Für mich steckt eine Grenze den Raum meiner Möglichkeiten ab: physisch, psychisch, intellektuell. Ich halte es für müßig, über die Notwendigkeit von Regeln im z.B. Straßenverkehr zu diskutieren. Wenn mein Kind auf die Straße läuft, wird es mit hoher Wahrscheinlichkeit verletzt. Auch wenn es auf dem Bordstein einer viel befahrenen Straße balanciert, ist mir das zu heikel und ich erkläre das oder biete ein alternatives, weniger gefährliches Spiel an. Ich mache mir bewusst, dass vielen anderen Menschen mein Kind nicht so am Herzen liegt wie mir und dass ich den Überblick behalten muss. Nicht jeder Radfahrer bremst z.B., auch wenn er es müsste (ich bin geplagte Berlinerin mit der Erfahrung auf dem Gehweg von einem Radler angefahren worden zu sein).

Es geht jederzeit um die Reflektion notwendiger Bedingungen und Möglichkeiten/ Grenzen. Aber es gibt Grenzen, die jeder Mensch setzt, weil er Bedürfnisse und Vorlieben hat, einfach weil er ein ganz eigenener Mensch ist. Ich halte es für sinnvoll, die Beziehung zu dem eigenen Inneren als gleichwertig zu den Bedürfnissen des Kindes zu betrachten.


Mädchen am Zaun



Wünsche nach guten Beziehungen

Alle Eltern wünschen sich eine gute Beziehung zu ihren Kindern. Die meisten sehen es heute als selbstverständlich an, dass keine Gewalt angewandt wird. Es ist Konsens, dass Gewalt sowohl auf der physischen wie auf der psychischen Ebene stattfinden kann.
Die Entwicklung von Beziehung statt Erziehung hat sinnvollerweise eingesetzt. Die Beziehungen zwischen Eltern und Kindern sind anders als noch vor wenigen Jahren. Jasper Juul nennt es „Gleichwertigkeit“ zwischen den kindlichen und elterlichen Bedürfnissen. Heute ist vielen Eltern etwas klarer, dass die Bedürfnisse des Kindes auch zählen. Noch vor wenigen Jahren setzte die RTL- Super- Nanny „böse“ Kinder auf die stille Treppe. Heute spricht sie sich auch für Beziehung statt Erziehung aus.

Als Eltern bloß keine Fehler machen

Ich beobachte  mit einer gewissen Sorge, dass der Anspruch, sein Kind perfekt zu verstehen, immer auf Augenhöhe zu sein, immer alles zu spiegeln, was im Kind vor sich geht und nie ärgerlich zu werden zu einer eigenartigen Verschiebung führt, für die ich gerne etwas Bewusstheit schaffen würde.
Es ist eine Idealisierung der Elternschaft, wenn man immer perfekt verstehen will. Fehler dürfen nicht mehr sein. Die Gelassenheit geht flöten. Wenn das passiert, kann man auch nicht mehr verstehen, was vor sich geht.
Idealisierungen sind psychische Abwehrmechanismen, die unter Anderem dazu dienen, Versagensängste nicht mehr spüren zu müssen. (theoretische Erläuterung zur Idealisierung/ Entwertung und zur Stabilisierung des Selbstwertes bei Eltern und anderen in der Fußnote) Diese Idealisierung soll davor schützen, sich ausgeliefert oder unwissend zu fühlen. Das gehört manchmal aber auch zum Elterndasein dazu.

Als Eltern berührbar sein

Wir müssen berührbar sein! Wir müssen echt sein! Dafür müssen wir einen Zugang zu unseren Gefühlen haben und klar benennen, was vor sich geht.  Ich glaube, dass fällt vielen Menschen schwer. Es gibt Hürden, die eigenen Gefühle wahrzunehmen, ohne sie auszuagieren. Natürlich ist es leichter, loszubrüllen und auf Regeln zu bestehen. Es bedeutet viel Arbeit, sich klar zu machen, was man fühlt. Es ist anstrengend, sich in das brüllende Kind hineinzuversetzen. Ja, das alles stimmt.  Ich glaube aber, es gibt keine Alternative zum Versuchen und zum Scheitern. Es ist ein immerwährender Prozess, Beziehungen sind so. Manchmal sind wir kompetenter, manchmal weniger.
Wir enthalten unseren Kindern etwas vor, wenn wir uns nicht trauen, auch mal zu scheitern, auch mal zu versagen. Die meisten Eltern fühlen sich natürlich besser, wenn sie sich kompetent fühlen.  Man darf sich aber auch zutrauen, Unsicherheiten auszuhalten und nicht alles an überfrachteten Idealen zu messen, die letztlich wahrscheinlich mehr schaden als helfen. Ich meine damit das Ideal von Unerzogen, dass ein Kind nicht einfach hochgehoben wird, wenn es das nicht will. Prinzipiell stimme ich zu, aber es ist eben leider nicht so einfach, finde ich.
 

Die Ängste der Eltern vor dem Versagen

Es scheint bei vielen Eltern riesige Ängste zu geben, zu versagen und dem Kind (und sich selbst) damit etwas anzutun. Das Ideal der verständnisvollen, aggressionslosen Mutter/ Eltern, die keine Grenzen setzt, wird zu einem inneren Diktat und macht unfrei. Warum sollten wir als Mütter unsere Freiheit und unsere Mannigfaltigkeit an Gefühlen in der Beziehung zu unseren Kindern aber so beschneiden? Ist die Angst so groß, aus dem Gefühl heraus zu handeln und für sich selbst keine Grenze setzen zu können? Ist da eine Angst, wenn man dem Kind Grenzen setzt, es so zu wüten beginnt, dass man selber so wütend wird und das Kind dann schlägt oder die Beziehung zueinander auseinanderbricht? Kommen eigene Erinnerungen an die Kindheit hoch, die es schwer machen, das eigene Kind als etwas Eigenständiges und nicht mit einem selbst Verschmolzenes zu sehen?
Aggression ist nicht per se etwas Zerstörerisches. Vielmehr ist es eine schöpferische Kraft, die wir brauchen, um uns (auch im wahrsten Sinne) zu bewegen. Um zu arbeiten, um kreativ zu sein, um uns zu entwickeln. Aggression ist Kraft! Wenn wir Liebe erlebt haben, brauchen wir uns vor Aggressionen nicht zu fürchten, denn unsere Liebesfähigkeit und der Glaube an das „Gute“ in uns wird bei ausreichender Selbstkontrolle dazu führen, dass wir uns auseinandersetzen können, ohne alles zu zerstören. Selbstkontrolle ist nicht Verdrängung und Verleugnung. Gerade eben nicht. Denn Selbstkontrolle bedeutet, dass wir uns unserer Gefühle bewusst sind und sie zulassen können.

 

Wen schließen wir von unserer Empathie aus?

 
Ein brüllendes Kind aus dem Supermarkt zu tragen, es schnell abzusetzen, zu begleiten und dazusein halte ich nicht für Gewalt. Es ist notwendig, die Gefühle und Grenzen der Mitmenschen genauso zu achten wie die des eigenen Kindes. Mein Kind liegt z.B. im Restaurant gerne auf dem Boden und zieht überall seine Schuhe aus. Soll es doch… wer sich daran stört, dem geht es wahrscheinlich um ein „so etwas macht man nicht“, denn ein stilles liegendes Kind ist objektiv betrachtet keine Störquelle. Aber ich zeige meinem Kind auch, dass es weder im Weg, noch unter dem Tisch der anderen Gäste zelten sollte, weil die sich gestört fühlen könnten und ich vermitteln will: jeder Raum ist wichtig. Ich will auch kein fremdes Kind unter meinem Tisch, wenn ich mir mal einen freien Abend gönne.
Empathie wird manchmal als etwas ausgelegt, dass Kinder nur und ausschließlich im Umgang mit sich selbst lernen. Das ist natürlich EIN großer Baustein. Nur wenn das Kind spürt, dass es verstanden wird, wird es den Wert dessen auch erkennen, aber das ist eben nicht alles. Wenn ich eine Dreijährige im Supermarkt aus welchen auch immer nachvollziehbaren Gründen nicht beruhigen kann (was einfach normal ist und vorkommt), dann gehe ich raus.
Warum?
Weil da vielleicht eine Ärztin steht, die im Krankenhaus nach einer 32 Stunden- Schicht einen Saft kauft, um dann endlich erschöpft ins Bett zu fallen. Womöglich weil da  ein Mann steht, der in seiner eigenen Kindheit geschlagen wurde und bei dem das Brüllen etwas Schwerwiegendes auslöst. Vielleicht steht da eine Mama, die ihr Kind gerade überfordert anderswo abgegeben hat, weil sie nur kurz mal durchschnaufen wollte und dabei den Einkauf erledigt.  Da sitzt eine Kassiererin, die sich wirklich konzentrieren muss, weil die Korrektheit ihrer Kasse geprüft wird und die einen anstrengenden Job hat.
Ganz einfach weil auch die Gefühle der anderen nicht egal sind…Leider habe ich das in den Kommentaren zu besagtem Artikel so rausgelesen, dass die Mitmenschen einfach nur mehr Verständnis haben müssten. Dabei taucht aber eben kein Gedanke daran auf, warum jemand vielleicht diese Situation schwer erträglich findet.
Natürlich kann und muss man nicht in jeder Situation alles bedenken, aber diese hoch emotionalen Situationen sind für viele schwer auszuhalten. Ich glaube nicht, dass man mit den Blicken und Sprüchen im Nacken gelassen sein kann. Letztlich sind aber die bissigen und beleidigenden Kommentare der Mitmenschen in solchen Augenblicken oft auch ein Ausdruck der Überforderung. Aber das ist ihr gutes Recht!
Ein um sich schlagendes Kind, was vielleicht beißt und kratzt, anzuheben und wegzutragen, ist sicher eine Herausforderung, aber heißt sie nicht auch: ich HALTE dich? Ich TRAGE deine Wut und deine Verzweiflung?
Wäre es nicht möglich, dem irgendwann wieder ruhigen Kind zu sagen: Puuuh, das war vorhin ganz schön schlimm für dich, nicht wahr? Weißt du, ich finde deine Gefühle sehr wichtig, aber du warst so wütend und hast soooo laut gebrüllt und wir wissen ja beide nicht, ob da jemand dabei war, dem es gerade schlecht geht. Deswegen habe ich uns einen anderen Ort gesucht.
Grenzen und liebevolle Begleitung schließen sich nicht aus… Begrenzungen helfen, uns selbst in Bezug auf andere und deren Bedürfnisse zu verorten. Wir können so Erfahrungen mit Grenzbegehungen und Grenzüberschreitungen sammeln und uns mannigfaltig zu erleben. Grenzen stecken einen Raum ab. Ein Raum bietet Sicherheit und wir können ihn mit gestalten. Grenzen  bedeuten, dass wir irgendwo Halt finden und dass es eine Struktur gibt. Wer Regeln- für was auch immer ihm/ihr wichtig ist- hat, hat Grenzen. Wie starr man diese setzt, das ist eine wichtige Frage, auf die es keine passende Antwort geben kann. Die Regeln und Grenzen müssen immer wieder neu angepasst werden. Ein grenzenloser Raum schützt nicht. Komplett ohne Grenzen zu leben ist eine Illusion, die dem werdenden Selbst eines Kindes vermittelt: alles geht! Du musst vor nichts Halt machen.
Wollen wir das wirklich? Geht es nicht darum, dass ein Kind die eigenen Grenzen kennenlernt und auch die des Gegenübers respektiert? Ist es nicht ein narzisstischer Größenwahn, wenn ein Kind glaubt, alles geht und alle müssen auf seine Bedürfnisse Rücksicht nehmen?
Mama und Papa „müssen“ das, dafür sind sie da, so weit wie sie das wollen und können. Es gibt eine Menge zwischen zuckersüßem und verharrendem „Ich weiß du möchtest das gerne und das fördert deine Kreativität, aber würdest du bitte aufhören, deiner Puppe die Haare in der Toilette auszuwaschen?“ und „geh auf dein Zimmer und komm wieder, wenn du wieder lieb bist“.Wir müssen unsere Kinder bei etwas sehr Wichtigem begleiten: bei dem Aushalten von Frustration und bei der Suche nach Ersatzbefriedigungen. Das ist Leben! Wir können nicht permanent ohne Rücksicht auf andere unsere Bedürfnisse durchboxen. Wir können uns selbst nur das Geschenk machen, unsere eigenen Grenzen wahrzunehmen und dafür einzustehen. Das können wir auch unserem Kind vermitteln. Das heißt z.B., dass ein wütendes Kind mit fünf dann vielleicht nicht mehr andere beißt, sondern dass es entweder schon seine Wut verbalisieren kann oder/ und im Spiel seine Wut rauslässt und seine Zerstörungswut ausdrücken kann, indem es symbolisch das Haus in Brand setzt. Es geht um ein Handeln im symbolischen Raum… genau das, was wir als Eltern auch tun.
Es gibt ein herrliches Buch eines Psychoanalytikers (Verhaeghe: Liebe in Zeiten der Einsamkeit), wo er ausführt, dass ein Mangel erst dazu führt, dass sich Begehren entwickelt. Permanente Befriedigung bringt nichts, es lässt uns nicht wachsen. Damit meine ich selbstverständlich nicht, dass ich mein Kind willentlich ignoriere, um es zu erziehen!

Empathie aus dem Ich und dem Du

Für die Entwicklung von Empathie (so ca. zwischen 3- 4 Jahren), also das Gefühl für die Gefühle Anderer, braucht es, dass die Anderen ihren Gefühle angemessen authentisch ausdrücken. Natürlich fange ich nicht wütend brüllend eine Diskussion mit meinem Kind an, aber ich kann sagen: das macht mich echt wütend, dass du jetzt zum vierten Mal meine Ohrringe vom Balkon schmeißt. Ich will das nicht (und dann sollte ich mal handeln und die Ohrringe sicher woanders verwahren).
Es geht um ein sowohl- als- auch in der Beziehung zu unseren Kindern. Ich und du, wir haben Gefühle und Bedürfnisse, so wie die anderen Menschen auf der Welt auch.

Streit aushalten

Es fällt vielen Menschen schwer, Streit auszuhalten. Er stellt eine gefühlte (oder manchmal auch reale) Bedrohung der Beziehung und deren Qualität ist. Aber Zwangsharmonie erstickt Lebendigkeit. Frustration führt zu Ärger, der oftmals zu Streit führt. Und dann kann man sich wieder annähern und sich versöhnen. Man kann besprechen, warum die Gefühle so intensiv waren, was man sich gewünscht hätte.
Wir geben unseren Kindern Angst vor Auseinandersetzung mit, wenn wir nicht gestatten, dass wir miteinander auch kämpfen. Es gehört zu uns Menschen, uns zu wehren, für uns einzustehen und manchmal auch Angriffe zu starten. (kurzer Hinweis: Mütter und Väter sind schließlich  auch Menschen).
Auch Angriffe eines Kindes müssen beantwortet werden! Ein Kind, dass eine sichere Bindung ausgebildet hat, wird durch solche Auseinandersetzungen reifen.
Ein Kind kann nicht verletzen, ohne dass darauf reagiert wird. Wir würden es damit vollkommen sich selbst überlassen. Es muss durch uns spüren dürfen, was- auch gesellschaftlich- wichtig ist. Das spürt es auch an unserem Handeln. Dazu gehört, dass wir für unsere Kinder Verantwortung übernehmen, denn sie können vieles in ihren Gefühlsstürmen nicht steuern. Es gehört zu einer gesunden Entwicklung dazu, dass Aggressionen auftreteen. Es ist notwendig, dass wir darauf reagieren und nicht aus Angst, oder manchmal sogar heimlichem Stolz, die Hände in den Schoß legen und von anderen verlangen alles auzuhalten. Diese Entscheidung können wir nur für uns selber treffen.
 
 
Adieu, 
Madame FREUDig
 
 
 
https://isebert.wordpress.com/2017/06/19/rausschmiss-bei-aldi/

Fußnote 

Aus psychoanalytischer Sichtweise schützen wir uns vor unangenehmen und unaushaltbaren Gefühlen, in dem wir unbewusst so genannte Abwehrmechanismen einsetzen, um Schmerzliches oder Konflikthaftes nicht mehr spüren zu müssen. Je nach Reife der Persönlichkeit ist die Abwehr unterschiedlich struktiert. Jemand, der sehr früh und permanent Versagungen erlebt hat, ist in seiner Abwehr nicht so stabil strukturiert und braucht deswegen sehr drastische Abwehrmaßnahmen wie die Spaltung (es gibt entweder gut oder böse, aber nie beides zeitgleich), um sich in seinem Selbstgefühl zu schützen.

Ein Abwehrmechanismus, den man besonders stark bei Personen mit brüchigem Selbstwert  vorfindet, ist  die Idealisierung und die Entwertung. Oft wird das Eigene idealisiert (mein fabelhaftes Auto) und das Andere entwertet (also in einen Golf würde ich nie steigen), aber es geht auch genau andersrum (du bist so toll und ich bin der letzte Dreck). Beide Mechanismen dienen dazu, den von außen schnell beeinflussbaren Selbstwert zu stabilisieren. Donald Trump ist dafür ein wirklich sensationell gutes Beispiel, aber so drastisch zeigt sich das nicht bei allen mit einer Beeinträchtigung im narzisstischen Bereich. 

Bei besonders engen oder gar symbiotischen Eltern- Kind- Beziehungen kann es vorkommen, dass das Kind gar nicht mehr als etwas Eigenständiges wahrgenommen wird, sondern im Dienste der elterlichen Bedürfnisse fungiert. Es wird zum Selbstobjekt der Eltern, die über die Leistungen oder über die Art des Kindes eine Gratifikation erleben. 

Glück hat derjenige, der wirklich in etwas begabt ist, weil er sich so die wichtige narzisstische Zufuhr sichern kann. Viele Menschen brechen regelrecht zusammen, wenn sie nicht mehr arbeiten, weil das sonst immer ihren Selbstwert stabilisiert hat. Burnout ist in diesem Zusammenhang zu sehen, wobei oft eine typische Überzeugung der Selbstausbeutung zu Grunde liegt: „Nur wenn ich ich andauernd Hochleistungen erbringe, werde ich wertgeschätzt (geliebt)“.

Ein Kind kann z.B. dafür gelobt werden, dass es immer brav ist, dass es immer seinen Kopf durchsetzt, dass es so stark, so lieb, so sonstwas ist. ALLES kann dazu dienen, dass Eltern sich stabilisieren, je nachdem, was ihnen wichtig ist. Da verschwimmt immer schnell die Grenze zu „das sind aber meine Werte“. Ein höfliches Kind z.B. ist etwas, was Eltern meistens anerkennende Worte von außen bringt. Sie fühlen sich in ihren Bemühungen wertgeschätzt, was vollkommen normal ist, denn wir alle brauchen narzzistische Zufuhr. Bewusst etwas drastisch formuliert, könnte es aber auch ein narzisstischer Missbrauch des Kindes sein!

Natürlich kann ich stolz auf mein Kind sein, ohne dass das etwas mit meinem Selbstwert zu tun hat. Wenn ich auf Teufel komm raus möchte, dass es höflich danke sagt, sich nicht unterkriegen lässt, mit drei englisch spricht, dann klopft da wohl ein Gefühl des Versagens aus dem Unbewussten an. Das hat mit unseren eigenen Erfahrungen aus der Kindheit zu tun, als wir womöglich selber nicht so geliebt wurden, wie wir einfach sind. Trotz besseren Wissens versuchen wir unsere eigenen Wunden und Verletzungen zu heilen, indem wir uns unbewusst von unserem Kind etwas wünschen. Aber leider geht der Teufelskreis an der Stelle dann immer weiter und weiter.

Es wäre schön, sich zuzugestehen, dass man manches manchmal nicht richtig oder gut macht, aber dass das auch kein Drama ist, dass das passiert und menschlich ist. Dass wir uns, trotz Anfeindungen von außen, realistisch betrachten und abwägen können, ob unsere Haltung und unser Handeln an der einen oder anderen Stelle wirklich so sinnvoll gewesen ist. Manchmal können wir uns auch auf die Schulter klopfen und sagen: ach, das ist dir aber heute wirklich gut gelungen. Es gibt kein richtig oder falsch, es gibt nur Standpunkte, die mehr oder minder mit unseren eigenen übereinstimmen. Aber auch die anderen Standpunkt können uns behilflich sein, uns immer wieder neu zu betrachten und mit uns selber innerlich im Gespräch zu bleiben.