Angeregt durch den Text „Welche Schublade bin ich? Und wenn ja, wie viele?“ von Sassi vom Blog liniert-kariert überwältigte mich mein altes Ich. Das Ich, das einst in den Hörsälen der Technischen Universität Berlin Soziologie studierte und unentwegt Gesellschaft besser verstehen wollte.

Sassi fragte sich in dem besagten Text, in welche Mama-Schublade sie am besten passen würde. Und ich fragte mich unweigerlich, wie vielfältig wohl meine Mama-Rollen seien, die ich spielen könne. Denn wie Sassi passe auch ich in keine Schublade vollends, so sehr ich mich auch bemühen mag. Niemand ist unentwegt Öko-Mama, Rabenmutter, DIY-Mom, Latte-Macchiato-Mom, Working-Mom, Helikopter-Mutter, Fitness-Mom, oder ausnahmslos bedürfnisorientiert oder unerzogen.
Niemand.

Wir alle spielen Theater. Die Selbstdarstellung im Alltag

Die aufmerksamen LeserInnen haben es vielleicht schon bemerkt. Ich spreche von Rollen und die spielt man auch noch. Erving Goffman schrieb einmal ein wundervolles Buch. Es hieß: Wir alle spielen Theater. Nicht nur ein soziologischer Klassiker, sondern auch ein Bestseller außerhalb der Soziologie. Gesellschaft und vor allem, wie wir Menschen in der Gesellschaft so agieren, wird dort nämlich mittels bildgewaltiger Sprache veranschaulicht.

Nun mag es gleich Mütter oder Väter geben, die sich angegriffen fühlen. „Ich spiele doch kein Theater! Ich bin ehrlich. Ich bin authentisch!“

Ja und nein. Weder Goffman noch ich wollen jemanden hinsichtlich seiner Ehrlichkeit oder Authentizität angreifen. Das Gegenteil ist der Fall. Nur wer ehrlich mit sich selbst ist, kann ehrlich mit anderen sein – und nur dann ist auch Authentizität möglich. Ein jeder von uns vermag nur solche Rollen aufrichtig und damit überzeugend zu spielen, die ihm auch auf den Leib geschneidert sind. Das sind Rollen selten auf Anhieb. Man probiert sich erst einmal. Man muss üben und üben, seinen eigenen Stil finden und die Rolle mit Leben füllen. Denn Latte-Macchiato-Mom ist nicht gleich Latte-Macchiato-Mom. Für Dritte magst du zwar gerade als eine solche erkennbar sein, doch kaum sitzt eine weitere neben dir, werden schon die Unterschiede offenbar.

Man muss sich das gesellschaftliche Leben wie eine gewaltige Zahl von kleinen Theaterstücken vorstellen. Oftmals dauern sie nur einen Moment an. Mal spielen sie vor großem Publikum, mal sind es One-Man-Vorstellungen vor einem gedachten Publikum. Die eigentliche Vorstellung findet auf der Vorderbühne statt, doch auch die Hinterbühne ist bedeutsam, denn hier wird so eine Vorstellung vorbereitet und begleitet. Hier sprechen sich die „Darsteller“ ab, geben sich Regiehinweise („Sag mal bitte gleich, dass wir am Samstag keine Zeit haben“) und ordnen die Requisiten (z.B, öffentlichen Drappieren der mitgebrachten Snacks auf dem Spielplatz).

Wir Menschen, also auch wir Mütter – selbst wenn nicht selten übermenschliche Erwartungen an uns gerichtet werden, haben dabei die Tendenz, beim Publikum auf verschiedene Art einen idealisierten Eindruck von uns erwecken zu wollen. Gerade in der Öffentlichkeit sind also die meisten in ihrer Selbstdarstellung darauf bedacht, die in einer Gesellschaft anerkannten Werte zu verkörpern und das auch noch in stärkerem Maße als in ihrem privaten Verhalten.

Ein Beispiel: Die Latte-Macchiato-Mom

So eine Latte-Macchiato-Mom zum Beispiel die wird ja als solche erst sichtbar, wenn sie die Bühne (ein Café, am besten im Prenzlauer Berg) betritt und sich dort einen Latte Macchiato bestellt.
Als Latte-Macchiato-Mom sitzt sie möglichst stilecht gekleidet in diesem Café. Sie ist dabei um so überzeugender, je weniger man ihr die Anstrengungen der Mutterschaft ansieht. Milchkotze zum Beispiel sollte da eher nicht die Bluse dekorieren. Einer waschechte Latte-Macchiato-Mom sieht man eigentlich gar keine Anstrengung an. Stattdessen trinkt sie tiefenentspannt ihre Kaffeespezialität, während ihr ebenso tiefenentspanntes Baby neben ihr im Kinderwagen schlummert.

Doch das ist die Vorderbühne. Auf der Hinterbühne musste die Latte-Macchiato-Mom womöglich nach einer durchwachten Nacht zunächst mit viel Make-up und einer Sonnenbrille ihr durch Müdigkeit gekennzeichnetes Gesicht kaschieren. Dann brauchte sie noch mal zwei Stunden, um das Baby in den Schlaf zu schuckeln. Und erst als es tief genug im Kinderwagen schlief, betrat sie das Café.

Diese halbe Stunde möchte sie nun genießen. Sie möchte sich wenigstens für diese halbe Stunde wie früher fühlen können. Sie möchte gerne statt der mitleidigen Blicke für ihr dauerweinendes Kind auch einmal bewundernd oder zumindest wohlwollend angeschaut werden.

Die Rolle der Latte-Macchiato-Mom tut dieser Mutter zwischendurch einfach gut. Außerdem erinnert es sie nicht nur an früher, sondern entspricht diese halbe Stunde auch ihren Erwartungen an die Babyzeit, welche sie vor der Geburt hatte und die so jäh enttäuscht wurden.

Das Publikum schließlich nimmt ihr diese Rolle der entspannten Latte-Macchiato-Mom ab. Sie ist eine richtige Latte-Macchiato-Mom. Immer gut aussehend. Immer entspannt. Ein Anfängerbaby im Kinderwagen. Das Publikum findet diese Vorstellung überzeugend. Für die Latte-Macchiato-Mom ist es das ebenso – für diese halbe Stunde. Weil es sich gut anfühlt.

Mit Goffman auf dem Spielplatz

So wie bei der Latte-Macchiato-Mom ist es bei allen Müttern. Es ist nicht immer so wie es scheint und schon gar nicht die ganze Zeit. Niemand ist die Rolle, man spielt sie nur temporär. Mal passt so eine Rolle so gut, man fühlt sich dermaßen wohl in ihr, dass man sie möglichst viel spielen will. Mal genießt man die Rolle zwar für bestimmte Momente oder Zeiten des Tages, ist aber auch froh, sie dann wieder ablegen zu können. Nicht selten spielt man auch Rollen, weil man sie einfach wichtig findet oder es gar muss.

Wenn wir auf dem Spielplatz sind, dann sehen wir überwiegend Mütter während ihrer Vorstellungen auf der Vorderbühne. Bei einigen kennen wir auch einige Aspekte der Hinterbühne, weil man hier und da Gesprächsfetzen aufschnappt oder weil man sich mit den Müttern schlicht mal unterhalten hat.

Da ist die Übermutter oder Helikoptermutter mit Gemüseschnitz, Vollkornbrotstullen und
Sonnencreme mit LSF 50 bewaffnet. Eine Mutter, die ihrem Nachwuchs einfach nicht von der Seite weicht und ihn betüddelt. Das ist die Vorderbühne.
Auf der Hinterbühne aber flüstert dieselbe Mutter womöglich ihrem Sohn zu, wie lieb sie ihn hat und wie leid es ihr tue, dass sie so viel arbeiten müsse.
Vielleicht sagt sie auch zu ihm, dass sie an ihn glaube, dass er das schon schaffen würde und sie sein Sicherheitsnetz sei, falls doch etwas schief gehen sollte.
Vielleicht ist es aber auch die Mutter, die ihr Kind nur einmal die Woche sehen darf und gerade einfach nur unglaublich glücklich ist, es zu sehen, es im Arm zu halten.
Vielleicht will sie aber einfach nur eine tolle Mutter sein.
Viele vielleichts.
Doch von keinem vielleicht bekommen wir als Publikum etwas mit (oder nur sehr selten), denn das alles wird nur auf der Hinterbühne verhandelt.

Da ist diese Working Mom in schicken Sachen, die ständig am Telefon hängt. Stets voll beschäftigt, selbst auf dem Spielplatz. Um sie herum lauter Hausfrauen, welche sie wahlweise kritisch beäugen oder beneiden. Wie sie da immer wieder angerufen wird und Termine ausmacht.
Auf der Hinterbühne wiederum kann alles ganz anders sein.
Vielleicht kommt diese Frau auch gerade von einem Vorstellungsgespräch und macht nun weitere Gesprächstermine aus.
Vielleicht will sie auch bloß gerade noch möglichst viel abarbeiten, damit sie für ihre Kinder nach dem Spielplatz Zeit hat.
Vielleicht arbeitet sie auch gar nicht, sondern organisiert die Ferien oder plant einen Urlaub.
Wir wissen es nicht, aber was wir sehen ist eine Working Mom. Eine Working Mom, die – selbst wenn sie immer auf dem Spielplatz arbeitet – nicht immer arbeitet. Niemand arbeitet immer und ist nicht zugleich auch jemand anderes. Ebenso kann sie am Wochenende mit ihrem Kind basteln. Ebenso können die Bedürfnisse ihres Kindes ihr unglaublich wichtig sein und sie versucht, so gut es ihr möglich ist, auf diese einzugehen.

Um einen bestimmten Eindruck von uns zu erzeugen, betonen wir situativ bestimmte Aspekte und versuchen andere zu verbergen. Das tut jeder von uns und genau das sollten wir immer im Hinterkopf haben, wenn wir allzu absolut über andere urteilen: Was auch immer wir für Mütter auf dem Spielplatz sehen, wir sehen die Vorderbühne und dann auch nur die Vorderbühne einer kleinen Vorstellung. Da sind aber noch ganz viele andere Vorstellungen. Jede Mutter spielt zahlreiche Rollen. Manchmal sogar die der Nicht-Mutter. Dann ist sie für kurze Zeit nur Femme fatale, beste Freundin, Verkäuferin oder selbst Tochter. Verschiedene Rollen einnehmen zu können, das tut jedem gut.

Wir lernen mannigfaltige Rollen zu spielen. Nicht alle passen zueinander, nicht alle werden von uns geliebt, nicht alle werden von jedem Publikum mit Applaus bedacht. Wir alle spielen Theater. Das​ bedeutet aber nicht, dass wir nicht echt sind, nicht authentisch. Es bedeutet viel mehr, dass jeder immer mehr ist als nur eine Rolle. Vielmehr sind wir viele Rollen und noch mehr als das. Jeder hat viele Seiten in sich und genau deshalb passt uns auch keine einzige Schublade maßgenau.