Eine Gesellschaft, die Individualität großschreibt, fürchtet sich vor den Folgen des Umgangs mit Kindern als ernst zu nehmende Individuen. Immer wieder liest und hört man es an prominenter Stelle: Die Eltern von heute ziehen narzisstische Tyrannen groß. Plötzlich wird der Individualitäts- und Selbstoptimierungswahn unserer Gesellschaft also zu einem Problem. Doch für wen eigentlich?

Permanent stehen Eltern und ihre Kinder in der Kritik. Was immer sie auch tun, aus irgendeiner Ecke kommen stets Missbilligungen und Anfeindungen. Heutige Eltern machen scheinbar nichts richtig. Man stelle sich nur vor, all die Kritiker würden denselben Feuereifer an den Tag legen, wenn es um Kinder- und Familienrechte geht. Kaum auszudenken, dass an das Wohl unserer Kinder, ja unserer Gesellschaft tatsächlich gedacht würde, statt emsig das Bild narzisstischer Tyrannen heraufzubeschwören. So aber erfolgt doch nur allzu oft pauschales Eltern-Bashing und ein weiteres Schüren von Unsicherheiten und Ängsten auf Seiten der Eltern. Denn wer will schon am Ende einen narzisstischen Tyrannen großziehen?

 

Narzissmus als gesellschaftliches Phänomen

Individualisierung ist elementares Kennzeichen und Ideal unserer Gesellschaft zugleich. Die Individualisierungsprozesse schreiten voran und machen auch vor der Elternschaft keinen Halt. Eine breite Angebotspalette von Ratgebern, Blogs und Unmengen an Konsumprodukten stehen bereit. Es gibt tausend Möglichkeiten, die Familienfreizeit, die Bildung, die Ernährung oder die Gesundheit der Kinder zu individualisieren. Moderne Elternschaft ist kein leichtes Unterfangen. Sozialisiert in dem Glauben, frei zu leben und zu entscheiden, stehen wir in einem Dschungel von Möglichkeiten.

Auf der einen Seite werden wir permanent dazu aufgefordert, aus den endlosen Möglichkeiten auszuwählen und zwar nicht irgendwie, sondern im besten Sinne unserer Kinder. Gefordert und gefördert sollen die Kleinen werden. Als Eltern ist man in besonderer Verantwortung und wird entsprechend in die Pflicht genommen, dem eigenen Nachwuchs bestmögliche Startchancen für dieses auf Leistungsfähigkeit ausgelegte Leben mitzugeben.

Auf der anderen Seite dürfen wir Eltern aber keinesfalls unsere Kinder zu unseren persönlichen Projekten machen. Insbesondere ein Zuviel an Hinwendung, Zuneigung, ja Liebe – das wirkt unmittelbar verdächtig. Fördern ja, aber doch nicht verwöhnen! Schließlich leben wir auch in einer Gesellschaft, in der die Erwachsenen nach Aufmerksamkeit und Liebe gieren und im gleichen Atemzug befürchten, andere mit einem Zuviel an Liebe und Aufmerksamkeit zu verwöhnen und zu verweichlichen. Angefangen bei den Kindern.

 

Immer mehr Narzissten?

Wenn ich nun von Narzissmus spreche, dann meine ich vor allem eine gesteigerte Selbstbezogenheit, bei der jemand das eigene Image übertrieben pflegt – auch und vor allem auf Kosten seines „echten“ Selbst. Narzissten interessieren sich für das Bild, welches sie bei anderen erzeugen – nicht aber für die anderen selbst.

Die Angst vor dem Narzissmus als gesellschaftliches Phänomen ist scheinbar nicht völlig unbegründet. Narzissmus ist aus meiner Sicht sogar zwangsläufig die Kehrseite einer durch Individualisierungsprozesse geprägten Gesellschaft. Das individuelle Streben nach Glück, Zufriedenheit und Erfolg sind wesentliche Merkmale des modernen Individuums. Wir werden gesellschaftlich permanent dazu aufgefordert, uns unserem Selbst zuzuwenden, es zu bewerten und zu optimieren. Die einzelnen Gesellschaftsbereiche sind daraufhin in beträchtlichem Maße ausgerichtet.

Eine gesteigerte Zuwendung zum Ich bei gleichzeitig wachsender Unfähigkeit, sich dem Du, dem Wir oder dem Euch empathisch zu widmen ist eine folgerichtige Konsequenz als gesellschaftlich beobachtbares Phänomen. Schon Christopher Lasch hat 1979 für die US-amerikanische Gesellschaft konstatiert, dass sie zunehmend narzisstische Tendenzen aufweise, ebenso spricht Hans-Joachim Maaz von einer narzisstischen Gesellschaft. Auch vom Psychoanalytiker Lang ist eine entsprechende Beobachtung zu verzeichnen:

Es scheint so zu sein, dass mehr und mehr, verbunden mit einem Rückgang altruistischer Haltungen, […] eine epochale Verschiebung hin zu einem narzisstischen Typus im Gange ist.“ (Lang 2017, S.688)

Wir leben also in einer Gesellschaft, in der die Menschen vornehmlich sich selbst in Blick nehmen und immer weniger die anderen: Eine Gesellschaft, in der Menschen sich nicht im Gegenüber spiegeln, um ihre Eigenwahrnehmung mit der Fremdwahrnehmung abzugleichen – und gegebenenfalls zu korrigieren – sondern um sich selbst zu bestätigen. In einer solch narzisstischen Gesellschaft konstruieren sich immer mehr Menschen ihre eigene Wirklichkeit und zwar eine, die sie eben nicht mit all den anderen Menschen teilen.

 

Narzissmus und Altruismus

Zugegeben, für mich als Sozialkonstruktivistin ist die gesellschaftliche Wirklichkeit schon immer (auch) sozial konstruiert. Das bedeutet aber gerade nicht, dass alles möglich ist und jeder mit seiner Wahrnehmung und seinen Wahrheitsdefinitionen „richtig“ liegt. Die soziale Wirklichkeit ist nicht die Summe unserer Fantasien, sondern stellt geteilte Wirklichkeitsdefinitionen dar. Es ist eine sozial konstruierte und keine individuell konstruierte Wirklichkeit: Nur wenn du und ich eine miteinander kompatible Vorstellung davon haben, was gerade vor sich geht, sind wir auch in der Lage, miteinander zu agieren. Erschaffen wir jedoch alle mehr und mehr unsere eigenen Wirklichkeiten, ohne diese mit unseren Mitmenschen abzugleichen, dann wird gesellschaftlichen Zusammenleben zunehmend schwerer, ja gesellschaftlicher Zusammenhalt irgendwann sogar unmöglich.

Jedes Individuum braucht andere Individuen als Korrektiv. Erst deren Reaktionen auf meine Aktionen, auf die ich wiederum reagiere, konstituiert ein gesundes Selbst mit einem gesunden Selbstbewusstsein:

Mit einem gesunden Selbstbewusstsein, das für eine intakte Persönlichkeit unabdingbar ist, hat das nichts mehr zu tun. […] Die Wirklichkeit perlt ab. Wer nur noch sich sieht, sieht naturgemäß nichts anderes mehr. Und Empathie ist dann – erinnern wir uns an Narziss – auch überflüssig.“  (Melanie Mühl, faz)

Eine Gesellschaft kann nur funktionieren, wenn sie zwischen den Individuen und dem Gemeinwesen zu vermitteln vermag. Wenn beides zueinander findet. Gesellschaften können dabei mehr dem Individuum oder auch mehr der Gemeinschaft zugewendet sein. Doch eine Priorisierung des Einen ohne adäquate Berücksichtigung des anderen kann aus meiner Sicht nur dazu führen, dass Gesellschaft wie Psyche gleichermaßen Schaden davon tragen. Ein grundlegendes Maß an Empathie und altruistischem Verhalten ist notwendig, weil sonst die gesellschaftliche Ordnung zerbricht.

Narzissmus ist durchaus elementarer Bestandteil einer gesunden Psyche und damit ebenso in jeder Gesellschaft vorzufinden. Die Grenzen zwischen einem krankhaften und einem gesunden Narzissmus sind fließend. Doch ab wann liegt denn ein ausgedehntes Gefühl der eigenen Wichtigkeit vor und ab wann sind Vorstellungen über den eigenen Erfolg und die eigene Bedeutung krankhaft überzogen? Ab welchem Punkt ist das Verlangen nach Bewunderung nicht mehr normal? Wie viel Empathiefähigkeit muss noch vorhanden sein? Antworten auf diese und andere Fragen sind immer auch gesellschaftlich konstruiert und unterscheiden sich entsprechend zwischen den Gesellschaften und auch in verschiedenen Zeiten.

Blickt man nun auf diese unsere jetzige Gesellschaft, dann kann man, wohin man auch blickt, beobachten, dass Narzissmus strukturell gewissermaßen belohnt wird.

Der Narzissmus hat die moderne Gesellschaft fest im Griff. Wir wollen besser scheinen, als wir sind. Denn Lautsprecher werden belohnt.“ (Imre Grimm, haz)

Selbstvermarktung führt in unserer Gesellschaft sehr wahrscheinlich zum Erfolg – wirtschaftlich wie sozial. Ohne jedes Mitgefühl für andere und ohne jegliche Bereitschaft, uneigennützig für andere zu handeln, geht es aber nicht. Krankhaften Narzissten fehlt das. Sie sind nicht in Beziehung – weder zu sich noch zu anderen.

Eine Gesellschaft, in der niemand wirklich in Beziehung zueinander steht? Unvorstellbar. Ein Ich braucht immer ein Wir. Nur wo bleibt das Ich im Wir eigentlich noch bei der ganzen Individualisierung und Selbstoptimierung? Wie kann dieses Wir dem Ich noch Haltung und Orientierung geben, wenn es von diesem immer häufiger losgelöst ist?

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Eltern und ihre kleinen Tyrannen?

Wenn wir aber dennoch in einer Gesellschaft leben, in der Narzissmus immer ausgeprägter wird, dann gibt es auch Eltern, die narzisstische Tyrannen großziehen. Das bedeutet aber eben nicht, dass alle Eltern narzisstische Tyrannen aufziehen und oftmals vor allem diejenigen nicht, welche die polemische und pauschalisierende Kritik treffen soll.

 

Bedürfnisbefriedigung erzeugt keine Tyrannen

Aus keinem Kind wird ein narzisstischer Tyrann, nur weil die Eltern seine Bedürfnisse ernst nehmen, es im Familienbett schlafen lassen, es tragen, es nicht zu Körperkontakt zu Dritten nötigen (und sei es das Küsschen der Oma) oder weil die Eltern auf Strafen verzichten, es nicht zum Essen zwingen, das Töpfchentraining unterlassen oder sie mit dem Kind gemeinsam auf dem Spielplatz spielen.

Attachment Parenting. Bindungsorientierte oder bedürfnisorientierte Elternschaft. Das sind die Hauptangriffsziele insbesondere medialer Kritik. Überzogene Darstellungen von Selbstaufgabe elterlicherseits und Vorwürfe eines angeblichen Fehlens jeglicher Grenzen sind typisch.

Doch nicht Liebe, Zuwendung, Achtung und Aufmerksamkeit sind ursächlich für ein Überschwall an Narzissmus. Und nur weil viele Eltern von heute Grenzen anders setzen als ihre eigenen Eltern das getan haben, heißt das nicht, dass da keine Grenzen sind. Zu lernen, dass die eigenen Bedürfnisse wertig sind und entsprechend Berücksichtigung verdient haben, mündet nicht in Narzissmus.

Erst wenn man lernt, dass die Bedürfnisse der anderen nicht zählen, wenn die eigenen Bedürfnisse über all die anderen gestellt werden, wird es problematisch. Und ja, hier gibt es Eltern, die sich an die eigene Nase fassen müssen. Doch wenn wir wirklich in einer narzisstischen Gesellschaft leben, dann ist es auch eben diese Gesellschaft, die manche Kinder zu kleinen Tyrannen macht. Eltern sind von dieser Gesellschaft nicht auszunehmen. Kausal ist es dann lediglich nicht mehr ganz so einfach.

Die Eltern dieser Kinder sind selber Kinder dieser Gesellschaft. Sie sind durch diese Gesellschaft geformt und formen mit dieser Gesellschaft auch ihre Kinder. Sie anzugreifen, stellt daher immer auch Gesellschaftskritik und ein Stück weit Kritik an sich selbst dar.

 

Eltern als Sündenböcke

Unglücklicherweise scheinen sich Eltern als Sündenböcke wunderbar zu eignen. Ihre Lobby ist erstaunlich klein und niemand, ja nicht einmal Eltern selbst, wollen in den Verdacht geraten, die Kindererziehung nicht im Griff zu haben. Getroffen werden vor allem Eltern, die ihre Elternschaft reflektieren und bewusst versuchen, die Beziehung zu ihren Kindern zu gestalten. Sie zu diskreditieren ist einfach und lenkt zudem schnell von einem selbst ab. Wenn man auf andere blickt, blickt man von sich selbst weg. Nur so kann man sich kümmernden Eltern ernsthaft pauschalisierend vorwerfen, sie würden ihre Kinder als persönliches Projekt begreifen, welches sie unentwegt und übertrieben umsorgen und schützen.

Aus dem Blickfeld gelangt allzu schnell, dass die gesellschaftlichen Erwartungen an Eltern und ihre Kinder nicht einfach von diesen selbst definiert und durchgesetzt, sondern von uns, der Mehrheitsgesellschaft bestimmt, gefordert und vermittelt werden. Dank der ausdifferenzierten Gesellschaft, in der wie nun einmal leben, gibt es eine unüberschaubare Zahl von Erwartungen. Diese Erwartungen stehen zudem immer wieder in Widerspruch zueinander und können unmöglich alle gleichermaßen erfüllt werden.

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Kritik als Ablenkung

Die pauschale Kritik an Eltern erfolgt aus meiner Sicht allerdings nicht, weil damit eine allgemeine Gesellschaftskritik einhergeht. Nur selten kann ich beobachten, dass die Kritiker der Eltern zugleich auf grundlegende Dysfunktionalitäten, die man beheben gedenkt, verweisen. Vielmehr werden die kleinen „verwöhnten“ Geschöpfe als kommende Bedrohung der eigenen Individualität und als Erinnerung daran wahrgenommen, was einem selbst gefehlt hat und womöglich noch immer fehlt.

Da wachsen schließlich Menschen heran, die voller Liebe, Achtung und ohne Gewalt groß werden. Die Kinder von heute wüssten mit den immensen Freiheiten nicht umzugehen, denn schließlich bereitet sie niemand auf das Leben vor – niemand härtet sie ausreichend ab. Glaubt man so manchem Zeitgenossen, macht Zuneigung, Zärtlichkeit und Bedürfnisbefriedigung aus Kindern zwangsläufig narzisstische Tyrannen (kritisch auch hierzu schon Madame FREUDig aus psychotherapeutischer Sicht), welche die Gesellschaft jetzt schon stören und später samt Leistungsunfähigkeit drangsalieren werden.

 

Angriff ist die beste Verteidigung

Selbstbezüglichkeit, Selbstbeschäftigung und Selbstoptimierung sind immer nur solange akzeptiert, wie es vorwiegend uns selbst betrifft und man die Vorzüge ungestört genießen kann. Aber wehe, da kommt jemand, der vermeintlich freier als wir selbst von gesellschaftlichen Zwängen lebt, der womöglich glücklicher ist. Die Freiheit und die Individualität des Gegenüber wird auf diese Weise schnell zur gefühlten Bedrohung, sodass wir meist gar nicht in der Lage sind, uns unserer tatsächlichen Bedürfnisse gewahr zu werden. Die Kinder der kritisierten Eltern machen nicht wenige Erwachsene auf ihre eigenen Unsicherheiten und (gefühlten) Unzulänglichkeiten aufmerksam. So ist es für mich oftmals nicht mehr als schlecht versteckter Neid auf ein Familienleben auf Augenhöhe und Rücksichtnahme, welches ihnen selbst in der Kindheit verwehrt wurde.

Sich differenziert mit Beobachtungen und Problemen auseinander zusetzen, ist schwer. Schwer, weil man dann schnell in die Situation kommt, sich auch mit sich selbst auseinanderzusetzen. Zu beobachten sind trotz der Individualisierungs- und Pluralisierungsprozesse daher permanent binäre Denk- und Bewertungsschemata. Binäres Denken vereinfacht unsere Sicht auf die Welt und ermöglicht es uns oft, die Augen vor den (auch eigenen) komplexen Problemen zu verschließen.

Eltern sind entweder Helikoptereltern oder nicht. Sie verwöhnen oder verwöhnen nicht, sie opfern sich auf oder eben nicht, sie erziehen richtig oder falsch. Die Zwischentöne bestimmen keinen Diskurs und entsprechend auch nicht unser aller Denken. Folglich ziehen wir Eltern auch entweder kleine narzisstische Tyrannen groß oder eben nicht.

Viel interessanter jedoch sind die vielen Farbnuancen dazwischen; viel zu schnell greifen wir selbst an oder fühlen uns angegriffen und viel zu schnell egalisieren wir alles und jeden, die nicht mit unserer Lebenswelt und unseren Idealen übereinstimmt, zu einer diffusen Masse, gegen die wir argumentieren müssen.

 

Unser eigener Narzissmus: Die Jagd nach Aufmerksamkeit

Wie schrecklich scheinheilig fast jede Kritik mit Absolutheitsansprüchen ist, offenbart sich schnell, wenn man nur den Blick weg von den narzisstischen kleinen Tyrannen nimmt und auf uns selbst, auf uns Erwachsene, schaut: Wir Eltern von heute loben unsere Kinder zu sehr? Sie gieren zu sehr nach Anerkennung und wir geben sie ihnen ungezügelt?

Aber was ist mit unserem Wunsch nach immer mehr Likes und Followern in den Social Media? Was ist mit unserer Suche nach dem perfekten Selfie und dem Wunsch nach Komplimenten? Wer schreibt am lustigsten, wer am originellsten? Wer backt besonders toll, wer sieht schön und begehrenswert aus? Permanent optimieren wir Erwachsenen unserer Äußeres und unser Image. Wie können wir ernsthaft Kindern mit ihren Eltern pauschalisierend Vorwürfe machen, sich selbst zu wichtig nehmen, wenn doch kaum ein Erwachsener sich der Bestätigungsmaschinerie entziehen kann.

Wir alle laden ständig Banales mit Bedeutung auf. Auf Twitter, Facebook und Co inszenieren wir unseren Alltag und eifern nach Herzen, Likes, Follower. Dabei beobachten wir, wer uns beobachtet und fühlen uns anerkannt, gelobt, wertgeschätzt, sobald wir gesehen und gehört werden.

Natürlich ist deswegen nicht jeder ein krankhafter Narzisst, aber es ist sehr wohl narzisstisches Verhalten, welches erst dann zum Problem wird, wenn es gewisse Dynamiken annimmt, die nicht nur uns, sondern auch unserem Umfeld Schaden zufügen.

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Ein Problem besteht sicherlich darin, dass unsere Gesellschaft weit davon entfernt ist, sich selbst grundlegend Grenzen zu setzen, wie weit Individualisierung und Differenzierung reichen darf, ohne dass die negativen gesellschaftlichen Konsequenzen überhand nehmen. In welchem Maße sind Altruismus und Empathie notwendig und wünschenswert – und dürfen als Gegengewichte zu Individualisierung und Narzissmus nicht aufgegeben werden?

 

Also doch keine kleinen narzisstischen Tyrannen?

Doch natürlich! Denn ja, es gibt Eltern, die an den ganzen Erwartungen scheitern und im Ergebnis womöglich kleine Tyrannen großziehen. Wohlgemerkt: wahrscheinlicher – nicht „mit Sicherheit“. Ob man eine narzisstische Persönlichkeitsstörung haben wird, ist nicht monokausal auf bestimmte Verhaltensweisen der Eltern zurückzuführen. Zudem gibt es nicht nur die Eltern, sondern Kinder wachsen in einem Umfeld mit weit mehr Bezugspersonen auf.

Immer wieder wird dieses Dorf bemüht, welches vonnöten ist, um ein Kind aufzuziehen. Dieses Dorf gibt es noch immer, nur schaut es die meiste Zeit tatenlos den Eltern und Kindern einfach nur zu und wirft lediglich von der Zuschauertribüne aus kluge Ratschläge in den Raum, statt selbst aktiv zu werden. Eltern mit ihren Kindern leben allzu oft in ganz anderen Lebenswirklichkeiten und doch maßen sich immer wieder Außenstehende an, dieses Leben bewerten zu können – ja es besser machen zu können.

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Besonders auffällig ist, dass nur selten Konsumkritik im Vordergrund steht. Auch nicht körperliche oder emotionale Vernachlässigung werden zum Kernthema gemacht. Nein, es ist die positive Hinwendung an sich – mit echter Aufmerksamkeit, mit viel Liebe und Respekt. Doch auf die Bedürfnisse der Kinder einzugehen, hat nichts mit Verwöhnen und Verziehen zu tun! Kinder zu achten, sie ernst zu nehmen und zu begleiten, hat zunächst einmal nichts, aber auch gar nichts mit narzisstischen Tyrannen zu tun. Bindung und Bedürfnisbefriedigung sind nämlich nicht mit Dauerkonsum und Wunscherfüllung gleichzusetzen.

Doch wie kann man nun ernsthaft glauben, dass ein wie immer geartetes Eltern-Bashing hier der Ausweg sei? Der erhobene Zeigefinger wird Eltern nicht erreichen, denn er übt schlimmstenfalls noch mehr Druck aus und gibt eben nicht korrigierende Orientierung. – Orientierung, welche auch deren Kinder suchen, um ein gesundes Selbst entwickeln zu können. Und nein, nur weil es Eltern gibt, die Haltung, Gefühl und Handlung nicht erfolgreich in Einklang bringen können und die keine sichere und damit verlässliche Bindung zu ihren Kindern aufbauen können, liegen nicht alle Eltern mit ihren modernen Vorstellungen von Elternschaft daneben.

Eltern, die Bedürfnisse und Beziehungen nicht nur der Kinder, sondern der gesamten Familie in den Blick nehmen, folgen nicht einfach nur irgendeinem Trend, irgendeinem neumodischen Quatsch. Die Verschiebungen in der „Erziehung“ hin zu Bedürfnissen und Beziehungen ist für immer mehr Eltern vielmehr das Ergebnis ihrer Auseinandersetzungen mit der Frage, was Kinder eigentlich brauchen. Was brauchen Kinder, um zu gesunden, stabilen und halbwegs zufriedenen Erwachsenen zu werden? Wie wollen wir als Familie in dieser Welt jetzt leben und welche Welt wünschen wir uns für unsere Kinder in Zukunft? (siehe auch unseren Text zum Labeling und zur Reflexivität von Elternschaft: „Die Attachment-Parenting-Falle)

Wir erleben gewissermaßen eine Werteverschiebung bei einem Teil der Eltern und so eine Verschiebung kann bedrohlich wirken. Und Neid hervorrufen. So lese ich daher auch viele kritische Texte in den Medien, die sich eben nicht differenziert auseinandersetzen, die sich nicht einlassen auf die neuen Perspektiven – Die stattdessen pauschal abwatschen und Eltern diskreditieren. Eltern, die es besser machen wollen – und gibt es in dieser Gesellschaft nicht verdammt viel, das besser gemacht werden kann, ja sollte?

 

In diesem Sinne: Mit mitfühlenden Grüßen

Eure Jessi

 

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Quellen

Grimm, Imre (23.06.2017):Wieso der Narzissmus zur Volkskrankheit wird; In: Hannoversche Allgemeine Zeitung.

Hermann Lang (2017): Zwang und Narzissmus; in: Psyche. Zeitschrift für Psychoanalyse und ihre Anwendungen 71 (8).

Lasch, Christopher (1979): The culture of narcissism: American life in an age of diminishing expectations.

Maaz, Hans-Joachim (2012): Die narzisstische Gesellschaft: Ein Psychogramm.

Mühl, Melanie (24.02.2015): Narzissmus. Ich kam, ich sah, ich wirke!; In: Frankfurter Allgemeine Zeitung. Feuilleton. 

Sadigh, Parvin (4.4.2016): Interview mit der Psychotherapeutin Leibovici-Mühlberger – Wenn du immer machst, was du willst, wird nicht alles gut; In: Zeit online.