Viele Eltern stellen sich die Frage, ob sie ihre Kinder anlügen dürfen, wenn es um den Weihnachtsmann, den Osterhasen oder sonstigen Fantasiewesen geht. Ich betrachte das Konstrukt Weihnachtsmann von der Seite der Fantasie. Susanne Mierau vom Blog geborgen wachsen fragte mich, ob ich  von therapeutischer Seite etwas zu der Frage des Lügens über den Weihnachtsmann schreiben könnte. Mir war nicht klar, dass viele Eltern sich darüber scheinbar intensiv Gedanken machen, weil sie ihre Kinder diesbezüglich nicht anlügen möchten. Ich verwende das Konzept der Mentalisierung nach Fonagy und Target mit dem Ziel der Symbolisierungsfähigkeit, um deutlich zu machen, dass das Glauben an Fantasiewesen in bestimmten Lebensabschnitten normal ist. Allerdings bezweifle ich auch, dass Kinder Schäden davontragen, wenn Eltern sich gegen Weihnachten und den Weihnachtsmann entscheiden. Jede Familie braucht Traditionen und ein liebevolles Beisammensein, aber der Glaube an den Weihnachtsmann ist dafür natürlich kein Garant.

Rentiere mit Schlitten

 

Was ist eine Welt ohne Fantasie?

Als Psychoanalytikerin arbeite ich am allerliebsten mit den Fantasien, Träumen und freien Assoziationen der Menschen. Versprecher, Vertuer, unüberlegte Aussagen und Träume sind die Welt, in der ich mich beruflich am wohlsten Fühle. Warum? Weil es den Zugang zum Unbewussten ermöglicht. Wir können uns dem Unbewussten nicht logisch, nicht rational nähern. Wir können es nicht willentlich oder absichtsvoll. Das Unbewusste ist eine Art Raum unserer Seele, in dem all das landet, was wir uns an Wünschen und Fantasien nicht gestatten. Verdrängtes und Vergessenes. Das Prinzip des Unbewussten ist es, dass es sich nicht leicht entschlüsseln lässt.

Es gibt Figuren, die gewisse Bedeutungen haben und die kulturell vermittelt werden. So gibt es so etwas wie einen Konsens über das Wesen des Weihnachtsmannes: freundlicher Mann, der Geschenke bringt. Ist das was Schlechtes?

Nun liegt es an jedem selbst, ob er konsumwahnsinnig seinem Kind Geschenke machen muss oder nicht (meiner Meinung nach ist die Bedeutung dessen ein wesentlich wichtigeres Thema als die Frage nach dem Anlügen wegen des Weihnachtsmanns).

Fantasien sind die Geschenke, die wir uns selber machen. Fantasien können durch die reale Welt beflügelt werden. Gerade Kinder bauen sich diese innere Welt erst auf und wir können das anregend unterstützen, indem wir nicht andauernd darauf hinweisen, dass die Kinder bloß Quatsch erzählen oder gar lügen.

 

Mentalisierung

Mentalisierung bedeutet, dass wir unsere und andere Gedanken und Gefühle geistig repräsentieren können. Es heißt,  dass wir darüber nachdenken können und das jeweils höchst Subjektive in jedem (an-)erkennen. Durch eine gute Mentalisierungsfähigkeit unterscheiden wir zwischen Innen und Außen und wir wissen, dass wir einen abgegrenzten inneren Fantasieraum haben. Viele Impulshandlungen können wir dann nämlich in der Fantasie vornehmen und können uns somit besser selber regulieren. Es muss nicht mehr jeder Gedanke in der Realität ausgeführt werden.

Die Mentalisierung ist daher eine wichtige Fähigkeit für eine gesunde und reife psychische Entwicklung. Insbesondere Fonagy und Target (2017) haben das ausgearbeitet.

Demnach gibt es verschiedene Phasen der Mentalisierung, die wir im Kindesalter durchlaufen und die gestört werden können, auf denen man sozusagen stehenbleibt.

Der teleologische Modus setzt ungefähr mit einem dreiviertel Jahr ein, wenn das Baby die Zielgerichtetheit des menschlichen Handelns zu begreifen beginnt. Wer kennt es nicht, dass das Baby gefühlte 100000 Male den Löffel runterschmeißt? Es ist eine tolle Entdeckung der Wirkungsweisen.

Für ein Kleinkind ist die reale von der inneren Welt noch nicht entkoppelt (Äquivalenzmodus: Realität und innere Welt sind dasselbe, sie sind äquivalent, also gleichwertig).

Erst in dem darauf folgenden „als- ob- Modus“ kommt es zu einer Trennung der inneren und äußeren Welt. Die Kinder werden entdecken, dass es Fantasiegestalten gibt und sich ihrer bedienen. Das Spiel wird sich verändern (so tun, als ob) und sie fangen an, sich in der Fantasie zu erproben.

Etwa im vierten bis fünften Lebensjahr setzt der „reflexive Modus“ ein und die Kinder beginnen eine Reflektion. In dem Alter werden auch viele Kinder sich Gedanken über die Echtheit des Weihnachtsmannes machen.

Im Rahmen des Mentalisierungskonzepts  ist es also in Ordnung, wenn das Kind an den Weihnachtsmann glaubt. Es wird irgendwann erkennen, dass der Weihnachtsmann eine Fantasiegestalt ist und wird nachempfinden können, warum seine Eltern ihm davon erzählt haben, wenn es gut mentalisieren kann. Eltern behindern die kindliche Entwicklung, wenn sie zu früh bei allen erdachten Fantasiewesen dem Kind erklären, dass es lügt oder schwindelt oder Quatsch erzählt. Die kindliche Fantasie ist notwendig und ein wichtiger protektiver Faktor.

 

Symbolisierungsfähigkeiten unterstützen ist nicht anlügen

Der Weihnachtsmann ist ein Symbol der Verheißung, der Güte und der Erfüllung. Durch ihn können wir losgelöst von ganz realen Gestalten des Alltags wichtige Botschaften vermitteln, die in die Psyche unseres Kindes einsickern. Es gibt Gestalten, die über uns wachen, die Gutes für uns wollen und die Freude auf die Welt bringen. Wenn wir uns fragen, ob wir Kinder wegen des Weihnachtsmannes anlügen dürfen, dann muss die Frage doch auch heißen, ob wir sie wegen jeglicher Fantasiewesen anlügen dürfen. Runtergebrochen ist der Weihnachtsmann doch nichts Anderes.

Je nach eigener Religiosität ist es nicht der Weihnachtsmann, sondern das Christkind, was am 24.12. einkehrt. Es bietet sich an, die Geschichte von Jesus und seiner Geburt, den drei Heiligen Königen und ihren Gaben zu erzählen. Es ist doch einfach ein schönes Märchen! Ich persönlich erzähle das nicht als Bibelwahrheit, sondern als eine Geschichte, als Fantasie. Genauso wie ich von Einhörnern und Trollen erzähle. Damit laden wir unsere Kinder wertschätzend ein, ihren Fantasien freien Lauf zu lassen und uns davon zu erzählen. Wie wunderschön ist es, wenn ein Kind seine Eltern mit seinen Geschichten begeistern kann oder wenn es gar ein wechselseitiger Prozess ist.

Aber wozu überhaupt?

 

Fantasien befriedigen unbewusste Bedürfnisse

Um unser seelisches Gleichgewicht beizubehalten, ist es ganz sinnvoll, nicht immer alle Gefühle ungefiltert in voller Stärke zu spüren, z.B. nicht unsere Mordswut gegen unsere Mutter. Wir erschaffen uns (als Menschheit, in Kulturkreisen) unsere Bilder/ Symbole/ Fantasien, um Gefühle und Fantasien zu befriedigen. Als Kulturkreis beeinflussen wir uns dabei gegenseitig.

Wer z.B. Krimis liest, befriedigt aggressive Anteile in sich selbst und kann damit Spannung an-, ab- und umbauen. Ein halbwegs gesunder Mensch wird das Gelesene nicht umsetzen und so kann man am Sonntag wieder einigermaßen friedlich mit Mutti am Kaffeetisch sitzen. Für die Psychohygiene ist es eben überaus sinnvoll, sich in diese Fantasiewelt zu begeben.

Fantasie(-wese)n geben Halt und bevölkern eine bunte Innenwelt. Das hat nichts mit Anlügen zu tun! Man braucht für eine bunte Innenwelt sicherlich nicht zwangsweise einen Weihnachtsmann, aber es schadet auch nicht. Ich sehe kein Problem darin, wenn jemand fantasievolle Geschichten mit seinen Kindern ausspinnt, in denen es Wichtel, Zwerge, Feen und Elfen gibt. Ich halte solche oder ähnliche Bilder für enorm wichtig.

 

Und wenn mein Kind mich fragt?

Wenn ein Kind etwas fragt, dann ist eine altersgemäße, wahre Antwort notwendig.

Kommt also das Kind auf die Idee, dass der Weihnachtsmann am 24. Dezember der Nachbar im Kostüm sein könnte, dann finde ich es wichtig, das Kind an der Stelle ernst zu nehmen und die Wahrheit zu sagen. Das kann natürlich eine Enttäuschung bedeuten. Ich glaube aber auch, dass diese Enttäuschung aushaltbar ist. Die Enttäuschung, wenn das Kind sich angelogen fühlt, wiegt aber schwer. Wenn es ahnt, dass etwas nicht stimmt, dann sollte man miteinander das Gespräch suchen und aufklären.  Unsere Kinder sind klug und kompetent. Sie werden uns zeigen, wann sie sich von der Welt des Weihnachtsmannes und Osterhasen lösen können.

 

Der Weihnachtsmann als Gruppenphänomen

Der Weihnachtsmann im Cola- Outfit ist etwas, was in unserer Kultur entstanden ist, derer Teil wir sind, vielleicht aber gar nicht sein wollen. Der dicke Typ in Rot ist ein junges Geschöpf und ich kann jeden Konsumkritiker verstehen, der das missbilligt. Dieser rote Weihnachtsmann wurde designt in einer Welt, in der wir uns unfassbar viel schenken und wo der Wert der Intimität und Vertrautheit immer mehr abhanden kommt. Aber es liegt nur an uns, wie wir unseren Kindern das nahebringen und welche Werte wir vermitteln, wenn wir zig Geschenke unter dem Weihnachtsbaum abladen. Das hat aber mit dem Konstrukt Weihnachtsmann nichts zu tun.

Weihnachten in KircheMit der Idee des Weihnachtsmannes gibt es an den Feiertagen eine unsichtbare Verbindung zu den vielen anderen Menschen, die auch zusammensitzen und Weihnachten feiern. Es ist womöglich ein Gruppenphänomen, aber es ist kein Schädliches. Der Glaube an etwas Gemeinsames verbindet. So etwas wie ein weihnachtlicher Gruppensinn entsteht. Ich verstehe die kulturkritischen Stimmen, aber ich persönlich sehe es anders:

Es laufen an Weihnachten viele Menschen in die Kirche. Unabhängig davon, ob sie gläubig sind oder nicht. Irgendetwas zieht sie da hin. Vielleicht ist das der Wunsch nach ein bisschen mehr Gemeinschaft, ein bisschen mehr Gruppen- und Gleichheitsgefühl? Wenigstens an Weihnachten soll diese beruhigende Idylle kurz mal stattfinden. Absolut irrational, aber doch ein so wichtiges Bedürfnis.

 

Projektionsflächen schaffen

Kinder oder auch Menschen, die psychisch instabil sind, nutzen psychische Abwehrmechanismen, die der Spaltung nahe stehen. Spaltung (also die Aufteilung in entweder gut oder böse) vereinfacht die Welt und hält sie innerseelisch bestenfalls sicher. Kleinere Kinder sind nicht in der Lage, das Sowohl- als- auch auszuhalten. Es ist eine enorme psychische Leistung, anzuerkennen, dass ein und derselbe Mensch gute und schlechte Seiten hat, die parallel existieren. Kinder brauchen aber zunächst diese Sicherheit. Du bist gut, du bist schlecht. Erst mit der Zeit wird die Fähigkeit zur Ambivalenz konstanter.

Geschichten, Märchen, Weihnachtsmänner und Osterhasen helfen dabei: es sind einfache Projektionsflächen. In den meisten Geschichten ist relativ klar, wer der Bösewicht ist. Das ist natürlich für z.B. den Wolf eine ziemlich unangenehme Aufgabe.

Die Sache beim Weihnachtsmann ist die: das Kind wird zunehmend merken, dass es selber verantwortlich ist und für das Gute in der Welt mit Sorge trägt. Dass das nicht ein Weihnachtsmann ist, sondern die Menschen und es selber. Eine wesentliche Erkenntnis. Der Weihnachtsmann ist eine Figur, deren Eigenschaften man sich aneignen kann.

Es ist wichtig, dass Kinder verschiedene Möglichkeiten haben, sich zu identifizieren. Nur, wer sich selber frei und unbewertet identifizieren darf, kann auch zu sich selbst finden.

 

Was ist mit dem strafenden Weihnachtsmann?

Ich lasse es ja oft genug in meinen Texten deutlich werden: ich bin kein Freund von verhaltensbasierten Straf- und Belohnungssystemen. Enttäuschung und Ärger über kindliches Verhalten muss man nicht durch Strafen abreagieren. Funktioniert alles wunderbar, darauf basiert immerhin die evidenzbasierte Verhaltenstherapie, aber ich bin kein Freund davon. Es geht mir nämlich primär um Beziehungen und die Gefühle, die in den Beziehungen ausgelöst werden.

Wenn Eltern ihren Kindern erzählen, dass der Weihnachtsmann keine Geschenke bringt, weil sie böse waren, dann finde ich das nicht beziehungsförderlich. Ich habe Mitgefühl mit den Eltern, die sich scheinbar nicht anders zu helfen wissen und die keinen Zugang zu den Gefühlen des Kindes finden.

Die Eltern senden aber fatale Botschaften:

Du BIST (!) böse!

Ich mag dich nur, wenn du lieb/ brav BIST!

Nun ist es aber so, dass Menschen Gefühle haben. Diese Gefühle sind Reaktionen auf innerpsychische oder äußere Vorgänge. Es gibt sieben Basisaffekte, die jeder Mensch auf der Welt von Geburt an hat:

Wut

Trauer

Ekel

Angst

Freude

Verachtung

Überraschung

Ein Kind zu bestrafen, weil es diese angeborenen Emotionen ausdrückt, halte ich für unnötig. Affektregulation (also z.B. bei Wut nicht andere zu beißen) ist eine wesentliche und wichtige psychische Funktion. Die erlernt ein Kind durch den Umgang mit ihm in diesen Situationen, durch eine adäquate Begleitung. Nicht, weil Eltern konsequent bestrafen!

Weihnachten als besinnliche und sinnliche Zeit

Weihnachten lädt ein zum Fantasieren und Träumen. Im TV laufen wunderschöne alte Märchen, die unsere Fantasie beflügeln. Jessi hat hier über ihre Freude an Weihnachten geschrieben. Niemand muss da mitmachen, niemand muss sich dem beugen. WeihnachtstischIn vielen Haushalten duftet es schön, es wird etwas Besonderes gekocht (es sei denn, die Berliner setzen sich mit Würstchen und Kartoffelsalat durch) und es herrscht ein paar Tage Ruhe. Ruhe in dem Sinne, dass die allermeisten nicht arbeiten, dass die Geschäfte endlich mal zu sind. Unruhig wird es unter dem Weihnachtsbaum oft genug, weil familiäre Konflikte hochkochen.

Das ist es wohl, worunter viele Weihnachtsmann- Ablehner vielleicht auch gelitten haben. Ich wage die Hypothese, dass mit der fundamentalen Ablehnung des Weihnachtmannes Protest dem Familiensystem gegenüber ausgedrückt wird.

Kinder werden einem alles vorwerfen können, egal, was man nun tut oder nicht. Insofern: macht, was zu euch passt, es wird immer Kritiker geben. Wenn jemand sein Kind nicht anlügen möchte wegen einer ausgedachten Figur, dann wird das zu dem entsprechenden Menschen passen. Solange dem Kind nicht prinzipiell das Betreten von fantastischen Welten verwehrt wird, halte ich auch ein Weihnachten ohne Weihnachtsmann nicht für bedenklich.

Ich lasse aus guten Gründen die Frage nach der Religiosität weg. Für manche kommt das Christkind und die Geburt Jesu Christi hat eine besondere Bedeutung. Das ist aber mit Absicht nicht Gegenstand meines Textes.

 

Erlebt in diesem Sinne besinnliche, schöne Feiertage und gestaltet sie so, dass ihr damit zufrieden seid!

 

Eure Madame FREUDig

 

Hinterlasst doch bitte gerne einen Kommentar unter dem Text, wann und wie eure Kinder aufgehört haben, an den Weihnachtsmann zu glauben. Ich hoffe, dass durch verschiedene Erfahrungen der Community vielleicht ein etwas versöhnlicherer und weniger strenger Umgang mit dem Thema möglich wird!

 

Literatur

Fonagy, P., Gergely, G., Jurist, E., Target, M. (2017) Affektregulierung, Mentalisierung und die Entwicklung des Selbst. Klett- Cotta*

 

 

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