Weihnachten steht vor der Tür und Erinnerungen strömen auf mich ein. Zudem ist meine Tochter gerade vier Jahre alt geworden. Wie die meisten habe auch ich an mein 4-jähriges und jüngeres Ich nur wenige Erinnerungen. Die Welt meiner Tochter ist hingegen voller Erinnerungen. Es ist unglaublich, an was sie sich alles erinnern kann. Und dennoch: Von den meisten Erfahrungen, die sie bisher gesammelt hat, wird sie sich als Erwachsene nicht erinnern. Vielleicht ist dies das erste Weihnachtsfest, welches sich in ihrem Gedächtnis dauerhaft einbrennt.

Ich wollte über Weihnachten schreiben. Aber zugleich nicht ausschließlich über Weihnachten, sondern auch über das Thema Erinnerungen laut nachdenken. Für mich hängt beides eng zusammen, denn eine meiner frühesten Erinnerungen überhaupt ist eng mit Weihnachten verbunden (hier habe ich sie auch schon geschildert!). Weihnachten ist ein Fest, gefüllt mit Erinnerungen an die Vergangenheit und Erwartungen an die Zukunft. Für mich ist Weihnachten etwas Besonderes und das sicher nicht nur, weil es Geschenke gibt. Mit Weihnachten verbinde ich viele besondere Erinnerungen und ich wünsche mir auch für meine Kinder, dass ich ihnen zahlreiche besondere Erinnerungen schenken kann. Mögen sie sich an Weihnachten daran erinnern, dass ihre Kindheit auch abseits des Weihnachtsfests im Großen und Ganzen doch ziemlich schön war.

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Kindheitsamnesie – Oder auch: Viel zu viel Aufwand für nichts?

Meine Erinnerungen beginnen etwa um mein drittes Weihnachtsfest herum. Das Phänomen, dass wir Erwachsenen uns an die vielen ersten Lebensjahre kaum und manchmal gar nicht erinnern können, hat sogar einen eigenen Begriff: Kindheitsamnesie. Das hat man, nein Frau (nämlich Caroline Miles!) schon vor über 120 Jahren herausgefunden. Die ersten drei Jahre verschwinden oft nahezu vollständig aus dem Gedächtnis. Und auch die Folgezeit verbleibt nicht gerade vollständig in Erinnerung. Scheinbar! Denn einfach nur weg sind all diese Erinnerungen keineswegs.

Plötzlich verschwinden tun die Erinnerungen an die frühen Jahre so langsam (oder auch etwas schneller), wenn Kinder etwa sieben Jahre alt sind. Besonders plausibel dafür, dass die Vergessensschwelle bei 3 bis 4 Jahren liegt, erscheint mir die These der Sprachentwicklung. Als Soziologin weiß ich um die herausgehobene Bedeutung der Sprache bei der Sozialisation. Außerdem weiß ich, dass es vor allem die Weiterentwicklung der Sprache war und ist, dass menschliche Gesellschaft sich so entwickeln konnte und noch immer rasant entwickelt. Komplexe Sprache ermöglicht komplexe Kommunikation – und komplexes Erinnern.

Bei meiner kleinen Tochter kann ich hautnah miterleben, wie die Sprachentwicklung in letzten Lebensjahr nahezu explodiert ist. Was für ein Wortschatz, was für eine Grammatik! Für mich ist das fast täglich wie ein kleines Wunder, was da in ihrem Kopf passiert und wie sie das mitzuteilen vermag.

Sprache erweitert jedoch nicht nur den Horizont unserer Kinder enorm, zugleich geht damit auch ein Verlieren einher. Wenn wir beginnen, sprachlich zu denken und zu kommunizieren, geht uns zunehmend die Fähigkeit abhanden, auf andere, nicht-sprachliche Weise zu erinnern. Es ist die Sprache, die zunehmend unsere Erinnerungen formt und reproduziert. Wir erinnern und kommunizieren diese Erinnerungen sprachlich.

Natürlich werden Neurowissenschaftler*innen und Psychologie*innen noch mehr dazu sagen können, aber ich bin ja nun mal Soziologin… Auch als Soziologin fällt mir neben der Sprache zum Beispiel auch sofort die Notwendigkeit eines Selbstkonzepts ein. Um sich (dauerhaft) erinnern zu können, muss ich von mir selbst ein Verständnis in Abgrenzung zu anderen Menschen und Dingen haben. Das passiert nicht von heute auf morgen und ganz entscheidend in den ersten Lebensjahren. Erst die Fähigkeit zur Rollenübernahme („taking the role of each other“) ermöglicht es uns etwa, Ereignisse aus verschiedenen Perspektiven wahrzunehmen und abzuspeichern. Erst so sind wir auch in der Lage, Erinnerungen nicht als starr, veränderungsresistent und als uns äußerlich zu erleben, sondern als zu uns gehörig und mit uns „mitwachsend“.

Ist nun der ganze Aufwand, den wir Eltern an den Feiertagen so betreiben, dann womöglich für die Katz, weil sie sich ja doch nicht erinnern werden?

 

Mit allen Sinnen erinnern

Keineswegs! Wir Menschen erinnern eben nicht nur sprachlich. Wir erleben Dinge mit all unseren Sinnen – gerade Kinder. Bei diesen sind die Sinne noch voll auf Alarmstellung. Sie riechen, hören, schmecken und fühlen ihre Umwelt und die Erinnerung schreibt sich in ihre Körper ein. Die kindlichen Körper erfahren und lernen unglaublich intensiv und können diese Erinnerungen sehr wohl auch später noch abrufen.

Auch wir Erwachsenen haben unsere Sinne nicht verloren, aber der Zugang zu ihnen ist ein anderer. Wir erinnern zuvorderst mit der Sprache und die meisten anderen körperlichen Erinnerungen sind uns oft nur bewusst, wenn wir sie auch in Worte zu fassen in der Lage sind. So wichtig Sprache aber auch ist – sie ist nicht alles.

Nicht-sprachliche Erinnerungen sind nicht einfach weg, aber wir erreichen sie kaum noch. Wenn wir also zum Weihnachtsfest schon für unsere Kleinsten ein schönes Weihnachtsfest gestalten, dann werden sie sich nicht daran erinnern – und zugleich doch erinnern. Sie mögen es nicht in Worte fassen können, es mag ihnen nicht einmal bewusst sein, dass da etwas ist, was sie nicht in Worte fassen können – doch das macht all das nicht ungeschehen: Der Körper erinnert sich.

Wer kennt sie nicht, diese Situationen, in denen man etwas riecht, schmeckt, hört, ertastet – und plötzlich strömen Bilder und Gefühle auf uns ein: mal diffus, mal ganz klar. So war Madame FREUDig überwältigt von ihren Erinnerungen, als ihre Tochter sie einmal biss. Wir sehen oder hören vielleicht etwas und da ist es auf einmal, dieses Gefühl des Wiedererkennens. Ja, auch all das, was wir in den ersten Lebensjahren erlebt haben, was wir erfahren oder uns widerfahren ist, kann uns in solchen Momenten überkommen.

Der Geruch nach frischen Plätzchen, Tannenbaum, Räucherstäbchen. Das Rascheln von Geschenkpapier. Weihnachtsgesang. Lichterketten. Omas Rotkohl. Lebkuchengewürz – All das, vieles anderes und noch viel mehr bleibt, auch wenn wir uns sprachlich nicht daran erinnern. Was auch bleibt, sind die Umarmungen, das Lachen, die liebevollen Stimmen unserer Liebsten. Die Gefühle – auch das bleibt. Jedenfalls, wenn wir uns nicht allein auf Weihnachten allein verlassen, sondern uns bewusst sind, dass gute Erinnerungen immer wieder neu geschaffen und erhalten werden müssen.

 

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Bindung und Bedürfnisse – Weihnachten als Ausbrechen aus dem Alltag

Wie entscheidend die ersten Lebensjahre für die Entwicklung von Kindern ist, hat gerade meine Co-Autorin Madame FREUDig schon an verschiedener Stelle hier auf dem Blog ausführlich erläutert (zum Beispiel Eine sichere Bindung auch bei der Eingewöhnung: was brauchen die unterschiedlichen Bindungstypen? oder Der Schlaf als Trennung: eine sichere Bindung für das Kind!). Die Bedürfnisse unserer Kinder sehen, sie erfüllen so gut es geht und dabei eine gute, d.h. sichere und stabile Bindung zu ihnen aufbauen – darauf kommt es vor allem an. Bedürfnis- und Bindungsorientierung passiert nicht nur an ausgewählten Tagen im Jahr. Sie ist kein Sprint, sondern ein lebenslanger Marathon.

Trotzdem: Aus dem Alltag auszubrechen und gemeinsam neue Erfahrungen zu sammeln oder bei wiederkehrenden Ereignissen das Gemeinsame zu feiern, stärkt Bindungen. Ich behaupte sogar, dass erst die besonderen Momente durch die wahrgenommene Differenz zum Alltag zeigen, wie gut – oder eben nicht so gut – es in genau diesem läuft.

Nicht umsonst streiten Familien gerade an Weihnachten häufig: Der krampfhafte Versuch, es wenigstens zu den „wichtigen“ Anlässen schön miteinander zu haben, ist dann nicht selten allein deshalb zum Scheitern verurteilt, weil dadurch nur in grotesker Weise offenbar wird, wie wenig schöne, schützende, sichere Bindung im Alltag aufgebaut wurde und wird.

Wenn jedoch schon im Alltag die Familienmitglieder achtsam miteinander umgehen, wenn Bedürfnisse gesehen werden, die Beziehung zueinander stetig gepflegt wird, gerade dann kann Weihnachten eine wunderbare Gelegenheit sein, auch sich selbst als Familie zu feiern. Der Ausbruch aus dem Alltag kann dann besonders erinnerungswürdig sein und gerade dadurch zelebrieren wir zugleich unseren an einem Miteinander ausgerichteten Alltag. Im Alltag geht das Besondere oft unter, eben weil genau das den Alltag ausmacht: Routinen. Routinen aber weiß man erst zu schätzen, wenn sie gestört werden. Weihnachten ist solch ein Ausbruch aus der Routine und ist auf diese Weise in der Lage, den wunderbaren Alltag – sofern er das denn letztlich ist (trotz Stress‘ und Hektik) – als erinnerungswürdig in den Blick zu nehmen.

Wie schön so ein Weihnachtsfest (oder auch anderes Fest) sein kann, hängt in starkem Maße vom sonstigen Alltag ab. Also gebt euch nicht nur zur den Feiertagen miteinander Mühe. Seid immer umeinander bemüht!

 

Erinnerungen sind niemals fertig

Als Soziologin habe ich einen sehr spezifischen Zugang zum Alltag, zu Feiertagen und zu Erinnerungen. Psychologische und Neurowissenschaftliche Erklärungen dienen mir lediglich als unterstützende (oder ggf. korrigierende) Impulse. Erinnerungen sind aus meiner akademischen Perspektive niemals nur individuell und schon gar nicht objektiv und endgültig. Erinnerungen sind (auch) sozial konstruiert, d.h., dass sie enorm von unseren sozialen Interaktionen geprägt sind und wir dabei immer einen ganz bestimmten Beobachtungspunkt einnehmen. Dieser ist niemals absolut und variiert in Zeit und Raum.

Bezogen auf Weihnachten heißt dies, dass meine kindlichen Erinnerungen an vergangene Weihnachten nicht dieselben sind wie meine Erinnerungen mit Anfang 20 oder die von heute. Ändert sich die Lebensphase und/ oder Lebenslagen, dann verändern sich auch Erinnerungen. Wenn wir uns erinnern, dann bewerten wir unsere Erinnerungen zugleich. Neu gemachte Erfahrungen können diese Bewertungen im Laufe der Zeit jedoch verändern. So ist es zum Beispiel denkbar, dass ich mich als Kind und Jugendliche gern an den Weihnachtsmann und vor allem den Mythos, den meine Eltern um ihn in den Anfangsjahren aufgebaut haben, voller Liebe, Sehnsucht und Freude erinnere. Wenn ich aber als Erwachsene womöglich erfahre, dass Vater oder Mutter mich sehr stark jahrelang belogen haben (und ich meine jetzt nicht die Weihnachtsmannlüge), dann kann sich das Erinnern an das Weihnachten der Kindheit verändern. Vielleicht betrachte ich dann sogar die Geschichten um den Weihnachtsmann als weiteres Indiz dafür, dass Vater oder Mutter immer schon nur gelogen haben. Erinnerungen an den einst geliebten Menschen werden dann durch die Brille des Lügners neu bewertet und so auch anders empfunden. Aus ehemals schönen Erinnerungen können schmerzhafte werden, obwohl sich die Vergangenheit ja eigentlich gar nicht geändert hat. Doch unsere Sicht darauf ist eben eine andere.

 

Und es ist eben nicht egal…

Erinnerungen stehen niemals nur für sich, sondern sind immer schon eng verwoben mit allen anderen Ereignissen und den Erinnerungen daran. In Erinnerungen fließen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft gewissermaßen zusammen: Denn das Vergangene wird in der Gegenwart unter dem Eindruck von Erwartungen an die Zukunft erinnert.

Es ist nicht egal, an was wir uns nicht bewusst erinnern. Dieses Ungewisse und Unbewusste, das ist trotzdem ein Teil von uns. Unsere frühestens Sozialisationserfahrungen prägen uns für ein ganzes Leben. Sie mögen uns nicht determinieren und unseren weiteren Lebensweg festschreiben, ehe wir ihn gegangen sind. Doch unsere frühesten Erfahrungen in und mit der Welt und den Menschen in ihr, ist unser Rucksack, den wir den gesamten Lebensweg über tragen werden.

 

Mit vielen schönen Erinnerungen an vergangene und zukünftige Weihnachten verabschiede ich mich nun bei euch und wünsche euch eine wunderschöne Weihnachtszeit.

herzlichst eure Jessi

 

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