Erinnerungen an unsere Kindheit sind wichtige Bausteine für unser Verständnis unserer selbst. Einerseits erinnern wir, was zu unserem Selbstbild passt, andererseits prägen gerade unsere Erinnerungen unser Selbstbild.

Erinnerungen sind für mich als Psychoanalytikerin ein sehr wichtiger Bestandteil meiner Arbeit. Deswegen möchte ich heute wieder einen Grundlagentext schreiben und erläutern, wieso wir so vieles nicht erinnern.

Viele Menschen können sich nicht an ihre kindlichen Gefühle erinnern oder verdrängen sie und meinen vielleicht  „ein Klaps hat ja nicht geschadet“. Diese Verschlossenheit sich selbst gegenüber macht es fast unmöglich, anderen empathisch und mitfühlend zu begegnen. Genau das ist der Schaden, der entsteht: eine Verrohung und emotionale Verhärtung! Diese unbewusste Abwehrstrategie der Identifikation mit dem Aggressor verhindert das Mitfühlen. Diese Identifikation findet statt, um Nähe mit dem ursprünglichen Aggressor herzustellen und das kindliche Selbst vor Verlassenheit zu schützen.

 

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Gedächtnis und Erinnern: psychologische Grundlage

Als Gedächtnis bezeichnet man Informationen, die dauerhaft im Gehirn gespeichert sind. Uns daran zu erinnern, heißt, dass wir diese gespeicherten Infos abrufen und uns darauf beziehen können. Dabei unterscheidet man das deklarative/ explizite und das prozedurale/ implizite Gedächtnis.

Im deklarativen Gedächtnis ist das gespeichert, was wir recht einfach bewusst abrufen können: unser Wissen (Paris ist die Haupstadt von Frankreich) und unsere faktischen Erlebnisse (mit 5 Jahren war ich an der Ostsee und habe schwimmen gelernt).

Im prozeduralen/ impliziten Gedächtnis können wir das Unbewusste verorten. Dinge, über die wir nicht nachdenken, sondern einfach automatisch tun, ohne zu wissen, wieso eigentlich. Fahrrad fahren, küssen, u.s.w.

Jessi hat hier neulich auch schon einen Artikel über Erinnerungen an die Kindheit bzw. die Kindheitsamnesie geschrieben.

 

Sprache als Symbol- dafür habe ich keine Worte!

Mit Entwicklung der Sprache können wir unsere Erinnerungen anders abspeichern und auch besser darauf zugreifen. Wenn es entwicklungspsychologisch früh zur massiven Ignoranz der Gefühlsäußerungen von Kindern oder zu traumatischen Erfahrungen kommt, dann erinnern sie sich daran später nicht mit Worten. Solche Erfahrungen werden neueren psychoanalytischen Konzepten nach als „embodied memorys“ gespeichert, also verkörperlichte Erinnerungen.

Oftmals sind das Menschen, die Gefühle unwissentlich besonders oft im Körper spüren und deswegen auch eher bei diversen Fachärzten anzutreffen sind als beim Psychotherapeuten. Es gibt keine Worte dafür, weil sie da, wo sie das gehalten Werden hätten verinnerlichen können, diese Erfahrung nicht gemacht haben. Es hat ihnen niemand geholfen, die Gefühle zu verdauen und auszuhalten. Gefühle behalten so zeitlebens etwas Ängstigendes und werden somatisch als Misstimmung erlebt.

Der Einfluss unserer Erfahrungen auf unsere Beziehungsgestaltung

Das heißt also, dass unser Beziehungswissen in den tiefen Schichten unbewusst ist. Wir verhalten uns, weil es uns logisch so erscheint und wir einfach so sind, wie wir sind. Da wir also keinen bewussten Zugriff darauf haben, führen wir unsere verschiedenen Beziehungen auf der Grundlage unserer unbewussten Erfahrungen.

Was ich als Kind erlebe, nehme ich mein Leben lang mit, auch wenn ich mich nicht erinnern kann. Erinnerungen an etwas Unbewusstes treten unkontrolliert auf. Man kann sich nicht hinsetzen und sich vornehmen, sich bewusst an das Gefühl des Tages xy zu erinnern.

Es kommt ab und an vor, dass Patienten in die Therapie kommen und mir berichten, sie könnten sich an nichts in ihrer Kindheit erinnern. Es sei aber alles ganz ok gewesen. Bei genauerer Nachfrage kommen Erinnerungen an Urlaube, besondere Erlebnisse, die aber über die Schilderung des Faktischen nicht herausgehen. Der Zugang zum impliziten Gedächtnis ist versperrt, es gibt nur einen Zugriff auf das explizite Gedächtnis. Eventuell könnte das darauf hinweisen, dass emotional etwas nicht aushaltbar war. Es musste verdrängt oder verleugnet werden.

 

Erinnerungen an Verdrängtes und Verleugnetes

Es ist ein Trugschluss, dass man nur Unangenehmes „vergisst“. Auch an sich schöne Erlebnisse/ Gefühle fallen der Verdrängung/ Verleugnung anheim, weil es möglicher Weise einen Anteil in einem gibt, der sich dafür vielleicht schämt, der sich schuldig fühlt etc. Verdrängungsmechanismen sind sinnvoll, denn sie schützen uns vor unangenehmen Gefühlen. Umso mehr in der Kindheit verpönt und mit Strenge und Regeln, mit Missfallen und Entwertung belegt war, umso selektiver werden die Erinnerungen sein. Viel zu schmerzhaft wäre es, sich daran zu erinnern.

So erkläre ich mir auch, warum so viele Menschen meinen „ein Klaps hat mir ja auch nicht geschadet“. Die Erinnerung an den Akt des Schlagens ist da, aber die Gefühle dazu sind abgespalten und verleugnet. Es passt nicht zum Selbstbild der selbstbestimmten und kontrollierten Erwachsenen, dass sie sich ohnmächtig, klein, hilfslos und ausgeliefert gefühlt haben. Es passt nicht, dass die Eltern Gewalt angewandt haben, gerade wenn das Verhältnis ein an sich Gutes ist. Schläge werden so unbewusst legitimiert, um sich selber zu legitimieren und sich nicht in Frage gestellt zu fühlen. Manche Leute halten intensiv fest an der Idee ihrer ideal(- isiert)- en Kindheit, weil sie spüren, die damit einhergehenden Gefühle nicht aushalten zu können.

Diese Erfahrungen sind bei den meisten keine großen Traumata, sondern eine allgemeine Grundatmosphäre.

 

Was schadet schon ein Klaps?

Eine Vielzahl von Menschen nimmt an, dass mal ein Klaps nicht schadet. Das Kind müsse doch lernen, dass nicht alles nach seiner Nase geht. Manchmal ist das Kind ja auch so überdreht und nicht erreichbar. Immerhin wird das Kind ja nicht verprügelt.

Das ist ein massiver Trugschluss! Jeder Klaps schadet, weil er die Sicherheit in der Beziehung in Frage stellt. Gewalttätigkeit, ob mit Worten oder physisch, beeinflusst die Art der Beziehung.

Ein kleines Beispiel:

Nach einem anstrengenden Tag auf der Arbeit liegt Frau Schulz abends im Bett. Sie hat Krämpfe in der Wade und fühlt sich unwohl. Wirft sich von links nach rechts und weint. Ist erschöpft. Sie spricht ihren Mann an, dass sie irgendwie komisch drauf ist. Herr Schulz schläft und wacht von dem Gezeter auf. Er setzt sich auf, sieht seine Frau an und gibt ihr eine Backpfeife, nicht doll, aber sie hält jetzt endlich die Klappe. Er legt sich hin und schläft weiter.

Frau Schulz ist 3 Jahre alt und wird sich wahrscheinlich wahrscheinlich versuchen, sich nun eher um sich selbst zu kümmern, statt sich jemandem zuzuwenden.

 

Abwehr von (traumatischen) Gefühlen

Es gibt Erfahrungen, die traumatisierend wirken.  Eine traumatische Situation trifft immer auf eine spezifische Psyche. Daher ist eine stabile Psyche von Traumatisierungen oftmals nicht so stark beeinflusst wie eine instabile (sehr junge) Psyche. Traumatisierungen im Kindesalter haben daher einen massiveren Einfluss bzw. wirken auch kleinere Traumatisierungen stärker.

Ein mögliches Kennzeichen von Traumata ist, dass es zu einer so genannten Dissoziation kommt, wo der traumatische Anteil/ Erfahrung komplett abgespalten und aus dem psychischem Erleben ausgeschlossen wird. Je stärker eine Traumatisierung ist, desto stärker ist meist auch das Ausmaß der Dissoziation.

Als Beispiel möchte ich dafür eine aktuelle Debatte nennen. In Süddeutschland verkaufte eine Mutter ihren Sohn für sexuelle Handlungen gegen Geld an Pädophile. Vor einiger Zeit hatte ein Familiengericht entschieden, den Jungen, der in der Obhut des Jugendamtes war, wieder in die Familie zurückzuführen, obwohl der Partner der Mutter vorbestraft war wegen Kindesmissbrauchs. In Diskussionen im Netz las ich öfter, dass viele sich fragen, wieso das geschehen könne, denn der Junge hätte doch bestimmt irgendetwas über diesen fürchterlichen Missbrauch erzählt. Ich weiß nicht, ob er das getan hat, aber ich kann mir sehr gut vorstellen, dass er das nicht getan hat. Mal davon abgesehen, dass er vielleicht aus Angst schwieg, könnte er unter einer traumatischen Dissoziation leiden.

Dissoziationen und Abspaltungen

Bei schweren Traumata versucht die Psyche ihr überleben zu sichern. Es ist das subjektiv Traumatische, was die eigenen Verarbeitungsmechanismen übersteigt. Jemand, der als Kind eine mangelhafte emotionale Begleitung erlebt hat, gerät wahrscheinlich schneller in für ihn traumatisierende Erlebnisse als jemand, der durch eine hinreichend gute emotionale Begleitung selber nun über diese Fähigkeit der Verarbeitung der Regulation verfügt.

Bei der Dissoziation ist es so, dass das traumatische Erlebnis mit all den Gefühlen abgespalten und quasi ganz fest weggeschoben wird. Betroffene beschreiben es als ein neben sich Stehen. Eine bewusste Erinnerung an das Erleben während dieses Zustand ist nicht oder kaum möglich. Es kommt dann aber durch bestimmte Trigger (Auslösereize einer Situation) zu so genannten Flashbacks, die vollkommen unkontrollierbar sind und die Person in diese Situation zurückversetzen.

So kommt es, dass sich Menschen auch nicht zwangsweise an einen Missbrauch erinnern. Um die eigene Welt und das eigene Dasein zu schützen, spaltet die Psyche das Erlebte ab. In Filmen wird das immer wieder dargestellt und von vielen Menschen in Frage gestellt. Es könne nicht sein, dass sich jemand lange an etwas nicht erinnern konnte und dann plötzlich feststellt, jahrelang vom Vater missbraucht worden zu sein.

Unsere Psyche ist echt toll! Sie schafft es, dass wir unangenehme Gefühle durch den Einsatz von Abwehrmechanismen nicht mehr spüren müssen. Leider zahlen wir dafür bisweilen einen hohen Preis, weil wir eben nicht die Vielfalt unserer Gefühle frei empfinden können und uns verschließen.

Es ist aber eben auch eine dialektische Sicht: wir müssen unseren eigenen Schmerz fühlen können, um den Schmerz des Anderen nachvollziehen zu können. Gleichzeitig müssen wir stabil genug sein, um weder von unseren noch von den Gefühlen des Gegenübers überflutet zu werden.

 

Die eigenen Gefühle verschlossen halten… und immer weiter verletzen

Wenn ich keinen Zugang zu meinen eigenen schmerzlichen Gefühlen finde, kann ich auch andere in ihren schmerzlichen Gefühlen nicht verstehen. Kinder schreien zu lassen oder auch mal zu schlagen ist dann eben nicht mehr schlimm, sondern rational bewertet ein notwendiges Übel, welches aus einer Überforderung o.Ä. resultiert. Die Erinnerungen an das Gefühl vom eigenen geschlagen Werden sind nicht mehr zugänglich. Natürlich gibt es auch andere Gründe, wieso jemand andere Lebewesen schlägt. Es kann eine Lust sein, sich anderen überlegen zu fühlen. Oder aber die eigene Hilflosigkeit wird durch Machtausübung kompensiert.

 

Identifikation mit dem Aggressor

Um sich weniger hilflos oder auch verlassen und einsam zu fühlen, kann es zu einer sogenannten Identifikation mit dem Aggressor kommen. Darunter versteht man einen Abwehrmechanismus, der vor unguten Gefühlen schützt. Dabei wird jemand so, wie der ursprüngliche Aggressor war.

 

Schreienlassen und andere Formen des Ignorierens

Auch an einer anderen Stelle geht es neben der Erschöpfung auch um eine eigene emotionale Verrohung. Das unbegleitete Schreien lassen von kleinen Babys. Es sind die allerwenigsten Eltern, die es gut finden, wenn ihr Baby schreit. Die meisten Eltern sind, wenn sie beispielsweise zu Schlaflernprogrammen greifen, schlichtweg überfordert und nicht in der Lage, die Situation länger auszuhalten und ihr Baby zu halten. Das Tragische daran ist, dass sie aber auch nicht in der Lage sind, sich selbst zu halten und gut zu beeltern, so dass sie das Schreien eben aushalten und begleiten könnten. Es greifen innerseelisch dann ähnliche Mechanismen wie beschrieben. Es entsteht ein Teufelskreis und manchmal hört ein Baby dann gar nicht mehr zu schreien auf. Ich habe hier darüber geschrieben.

Eine Mutter, die z.B. von ihrer Mutter geschlagen oder jedes Mal ermahnt wurde, wenn sie weinte, ist in einer höchst vulnerablen Situation, wenn ihr eigenes Baby nun weint oder wenn das Kleinkind „aufmüpfig“ wird. Sie hat, sofern es nicht irgendjemanden gab, der sie statt der eigenen Mutter emotional gut begleitet hat, keine Erfahrung damit gemacht gehalten zu werden. Wer nicht gehalten wurde, kann nicht halten. Es ist eine tiefe emotionale Mangelerfahrung, die aber womöglich gar nicht wahrgenommen wird.

„Aus mir ist doch auch was geworden“ ist ein typischer Satz, der diesen schmerzlichen Mangel rechtfertigen soll. Die passende, aber durchaus irritierende Frage sollte vielleicht lauten: was hätte denn aus dir werden können, wenn du nicht so gedemütigt oder allein gelassen worden wärest? Nur weil jemand nicht in der geschlossenen Psychiatrie oder der Obdachlosigkeit landet, sondern eine Familie gründet und arbeitet, heißt das nicht, dass er ein fühlender und mitfühlender Mensch geworden ist.

 

Alles verloren? Kein Ausweg bei eigener schlechter Kindheit?

Absolut nicht! Nicht umsonst finden sich in sozialen Berufen viele Menschen, die selber deutliche Mangelerfahrungen erlebt haben. Die besten Schriftsteller und Schauspieler schaffen es, in sich Gefühle aufsteigen zu lassen. Sich mit diesen Gefühlen auseinanderzusetzen, kann einen großen inneren Reichtum freisetzen. Die Fähigkeit, seelische Schmerz zu erleben, ohne überflutet zu werden, kann einen empfindsam machen. Dies kann die Quelle einer „sozialen“ Ader sein. Allerdings muss dafür dann die Erfahrung des gehalten Werdens in irgendeiner Form nachgeholt werden. Die Gefahr des Agierens ist nämlich groß. Agieren ist ein psychoanalytischer Fachbegriff. Statt sich zu erinnern und sich innerpsychisch auseinanderzusetzen, findet ohne Reflektion der eigenen, unbewussten Beweggründe eine Handlung statt. Das führt zu Verstrickungen und einem Handeln, welches nicht im Sinne des Gegenübers ist. Vielmehr geht es darum, sich selber zu heilen.

Das ist es auch, was viele Eltern zu Kast- Zahns „Jedes Kind kann schlafen lernen“ treibt. Es wird agiert, statt sich selbst gut zu beeltern und sich mit den eigenen Gefühlen auseinanderzusetzen. In der konkreten Situation, wo ein Baby tagelang weint und nicht schläft, ist die Auseinandersetzung natürlich mehr als unangebracht. In dem Moment braucht die Mutter/ der Vater Halt!

Hier habe ich euch zwei Angebote rausgesucht, die euch helfen können:

Suche nach Schreiambulanzen: https://www.schreibaby.de/adressen-fuer-eltern-von-schreibabys/

Elterntelefon: https://www.nummergegenkummer.de/elterntelefon.html

 

Eure Madame FREUDig

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