Kinder zu ignorieren wird manchmal als bewusste Erziehungsmaßnahme eingesetzt, manchmal ensteht es aus Überforderung, manchmal aus einer schwierigen psychischen Verfassung von Eltern. Es gibt Ratgeber, die empfehlen, unerwünschtes Verhalten zu ignorieren und dem nicht auch noch Aufmerksamkeit zu schenken. Ich möchte in meinem heutigen Artikel von der Seite des Kindes aus diese heiklen Fragen aufgreifen: Wie reagieren Kinder, wenn ihr Gegenüber durch z.B. eine Depression dauerhaft emotional abwesend ist oder es auch absichtlich auf Grund bestimmter Erziehungshaltungen oder Methoden wie dem kontrollierten Schreienlassen ignoriert?

Es geht um Aufklärung und um die Möglichkeit, z.B. auch als beobachtender, teilnehmender Dritter auf ein Kind anders eingehen zu können und etwas zu kompensieren. Es geht nicht darum, z.B. Menschen mit Depressionen Schuldgefühle einzureden, absolut nicht! Vielleicht kann der ein oder andere Betroffene aber auch nochmal ein bisschen besser für sich sorgen und nach Hilfen suchen. Aus der eigenen Geschichte heraus fällt es manchmal schwer, in Kontakt zu bleiben, wenn ein Kind intensiv emotional ist. Ich habe hier zum Beispiel schon über den Umgang mit kindlicher Wut geschrieben.

In meinen Texten geht es immer um die zweifache Botschaft: guck auf dein Kind UND verstehe auch dich, dein eigenes, inneres Kind. Nur so kann man sich selbst gut nachbeeltern. Insofern spreche ich hier konkret Erwachsene an, die mit Kindern zu tun haben, die sich aber auch bewusst sein sollten, dass sie mal Kinder waren und entsprechende Erfahrungen gemacht haben.

Trauriges Kind sitzt im Freien. Terrorpüppi | Reflektiert, bedürfnisorientiert, gleichberechtigt

 

Kinder wünschen sich Reaktionen statt ignorieren

Ist eine Mutter oder ein Vater oder eine andere primäre Bezugs- und Bindungsperson emotional nicht verfügbar, entsteht daraus oft eine erschwerte Beziehungsgestaltung.

Ich möchte euch gerne folgendes Video zeigen. Es wird dabei sehr deutlich, wie Kinder auf den emotionalen Rückzug von ihren Bezugspersonen reagieren. Nach etwas Vorgeplänkel geht es bei ca. 0:30 los.

Kinder, deren Eltern sich plötzlich aus dem Kontakt zurückziehen, sind höchst irritiert. Oftmals versuchen sie, das Gegenüber zu beleben. André Green, ein französischer Psychoanalytiker, entwickelte das sehr hilfreiche Konzept der „toten Mutter“*.  Die Mutter stirbt dabei nicht wirklich, sondern sie ist in ihrer Anwesenheit abwesend. Das Baby nimmt diesen Anteil/ das Bild der Mutter in sich mit herein und fühlt sich für das Unglück der Mutter verantwortlich. Sie werden lustig, drehen auf oder machen Quatsch. Manche Kinder verstummen und bleiben stumm. So lange es die Chance auf Reaktion gibt, werden Kinder sich bemühen, wieder in Kontakt zu kommen. Nicht mit sich, sondern mit dem Gegenüber. Den Kontakt zu sich selbst haben sie sehr früh geopfert, um den notwendigen Kontakt zu ihrer wichtigen Bindungsperson zu erhalten. Menschen brauchen für eine gesunde Entwicklung Beziehungen!

Dasselbe Experiment wurde auch mit Vätern gemacht:

Es ist in beiden Video deutlich zu sehen, wie erleichtert die Kinder sind, wenn die Eltern wieder reagieren und auf sie eingehen.

Depressive Eltern nach der Geburt

Bei der Depression fühlen die Betroffenen sich niedergeschlagen, leer und ohne Sinn, der Bezug zur Welt ist mehr oder minder verloren. Sie sind oftmals in sich gefangen, empfinden keine Freude oder gar Lust und, je nach Schwere der Episode, erreicht sie kaum etwas. Eine große innere Leere und Hoffnungslosigkeit machen sich breit. Depressionen entstehen manchmal ganz plötzlich nach einem Auslöser. Die Ursache, so dass der Auslöser zum Auslöser wird, liegt an anderer Stelle. Es gibt unterschiedliche Entwicklungswege für eine Depression und auch unterschiedliche Arten der Depression.

Psychodynamisch betrachtet, gibt es bei einer neurotischen Depression immer einen inneren Konflikt. Es gibt Anteile im Inneren, die unterschiedliche Bedürfnisse haben. Der klassiche, neurotische depressive Konflikt besteht zwischen Versorgungsbedürfnissen und Schuld. Was bekomme ich? Darf ich das? Will ich zu viel und bin ich zu gierig?

Bekommt eine Mutter nun ein Kind, brechen potentiell verschiedenste innere Konflikte auf. Eigene Versorgungswünsche stehen plötzlich zwangsweise hinter denen des Kindes zurück. Das kann alte, frühe Gefühle hochbringen, eigentlich nie ausreichend emotional versorgt worden zu sein oder genug bekommen zu haben. Wie soll ich denn was geben, wenn ich nie etwas bekommen habe?

Das Kreisen um diese Gedanken hält einen dann innerlich fest.

Schuldgefühle kommen dazu: ich kann gar nicht für mein Baby da sein, was bin ich für eine schlechte Mutter?

Dummerweise ist da ja etwas Wahres dran. Wenn ich größtenteils über mich und meine Verfehlungen etc. nachdenke, dann kann ich gar nicht im Kontakt sein. Es entsteht dann innerlich noch mehr Druck und eine Art Teufelskreis.

In einer Therapie kann man unter Umständen das eigene Gute wiederentdecken. Nur, wenn ich fühle, dass ich etwas zu geben habe, kann ich auch geben. Ich kann auch geben, ohne das zu fühlen, aber dann verlange ich unbewusst wahrscheinlich auch irgendeine Art der Wiedergutmachung und der Gegenleistung.

 

Baby- Blues

Ein Baby- Blues, der zum einen hormonell bedingt ist, ist etwas Anderes. Er macht Frauen nach der Geburt sehr berührbar, empfinsam, aber auch ängstlich. Das ist vollkommen normal! Dieser Baby- Blues, der einen vielleicht auch viel weinen lässt, vergeht.

Ängste dürfen sein! Wer ein Baby bekommt, erhält ein kostbares Geschenk und das kann einen ganz schön mitnehmen. So viel Verantwortung! Es können auch Selbstzweifel aufkommen. So lange die Zweifel und Ängste nicht überhand nehmen, können sie einfach neben der Freude und Überwältigung, Neugierde und Liebe bestehen.

Eine geschulte und feinsinnige Hebamme (oder wer auch sonst da ist) wird in dieser Zeit Sicherheit geben.

 

Kontrolliertes Schreienlassen/ Ferbern: Du darfst eben nicht reagieren! Ignorieren als Rat.

Es gibt Erziehungsmethoden, die sich ganz explizit auf das Ignorieren als Erfolgsfaktor berufen. Die klassische Verhaltenstherapie hat da eine Reihe von Methoden, um einen Menschen dazu zu bringen, gewünschtes Verhalten zu zeigen und unerwünschtes Verhalten zu unterlassen. Verstärkung (Belohnung oder das Entfernen negativer Reize) erhöhen die Auftretenswahrscheinlichkeit von Verhalten. Symptome/ Fehlverhalten sind demnach angelernt und können daher auch verlernt werden.

Die Verhaltenstherapie kann mit einer großen Bandbreite von Wirksamkeitsstudien belegen, wie hilfreich sie in der Beseitigung von Symptomen ist.

Die Methode, ein Baby kontrolliert schreien zu lassen, um es so zum Schlafen zu bringen, wurde in Deutschland von Anette Kast- Zahn in ihrem gut verkauften Buch dargestellt. Es ist eine hoch wirksame Methode, um sein Kind zum Schlafen zu bringen und basiert auf der verhaltenstherapeutischen Methode des checkings.

Na dann ist doch alles gut, oder nicht?

Mir ist durchaus bewusst, dass es vielen Menschen darum geht, dass ein sie plagendes Verhalten (ob nun das eigene oder das eines anderen) schnell verschwindet. Aber: ein Symptom teilt etwas mit. Ein unerwünschtes Verhalten gibt uns Aufschluss über das Seelenleben und die innewohnenden Bedürfnisse. Nur, weil ein Symptom weg ist, ist das Bedürfnis dahinter nicht verstanden oder gar gestillt.

Diese Methode des kontrollierten Schreienlassens/ Ferbern ist so überaus wirksam, weil ein Kind erlebt, dass es nichts bringt, nach seinen Eltern zu rufen. Es erkennt, dass es nichts bei seinen Eltern ausrichten kann und dass sie auf keinen Fall auf seine emotionale Missstimmung reagieren werden. Man könnte einwenden, dass ein Kind, was tagsüber eine adäquate Begleitung erfährt, diese dann nicht immer braucht. Nun ist aber das Schlafen eine große Herausforderung. Die Zahlen der Schlafstörungen bei Erwachsenen sprechen für sich. Laut Studie der DAK leiden 80% der Erwerbstätigen (in ihrer Studie) unter Schlafstörungen. Schlaf ist also scheinbar etwas hoch Vulnerables! Er hat mit loslassen und entspannen zu tun. Ich habe hier in einem Artikel deutlich gemacht, dass Schlaf Trennung bedeutet und deswegen das Bindungssystem bei einem (Klein-) Kind aktiviert wird.

Sollte es der Fall sein, dass Eltern am Ende ihrer Kräfte sind, es niemanden gibt, der sie unterstützt, sie aus welchen Gründen auch immer nicht im Familienbett schlafen wollen und sonst nichts hilft, was in dem Buch „Schlaf gut, Baby“ von Herbert Renz- Polster und Nora Imlau (*affiliate link) steht und sollten sie wirklich befürchten, ihr Kind zu schütteln oder auf den eisigen Balkon zu setzen, dann können sie auch ferbern.

Wenn allerdings der Schlafmangel aushaltbar und kompensierbar ist, das Gemüt nicht vollkommen zerstört ist, dann bitte ich, sich die oben verlinkten  Videos immer und immer wieder anzusehen, um nicht auf diese Methode zurückgreifen zu müssen.

 

Wie löst ein  Kind das Dilemma, doch wieder gesehen zu werden?

Nun hat das Baby, aber auch das größere Kind, vielerlei Möglichkeiten, auf sich aufmerksam zu machen.

Wenn Kinder getadelt werden, dass sie mal wieder „überdreht“ sind, könnten wir uns auch fragen, warum das für das Kind jetzt eigentlich so notwendig ist. Was und wen reguliert es mit seiner ausgeprägten Lebendigkeit vielleicht? Oft sagen Leute auch: „Ach, der/ die will doch nur Aufmerksamkeit“. Die Tragik dahinter ist groß: anstatt darauf zu reagieren und sich in eine authentische Beziehung zu gegeben und offen zu signalisieren, dass man sich gerne anhört, was das Kind beschäftigt, wird das Kind ignoriert. Dahinter steht oft der Lehrversuch, einem Kind beizubringen, dass solches Verhalten nichts nützt. Und ja, das wird es damit auch lernen. Gleichermaßen lernt es bei so einer grundlegenden und dauerhaften Einstellung des Gegenübers auch, dass es nicht wichtig ist und dass seine Gefühle irrelevant sind.

Ich gehe jetzt kurz konkret auf ein paar Lösungsversuche von Kindern ein. Das Muster ist in allen Lebensaltern gleich, es unterscheidet sich natürlich je nach Entwicklungsstand.

 

„Zappel nicht so rum“ Das überdrehte Kind

Ein Kind, das sich nicht hinreichend wahrgenommen fühlt, kann mitunter so richtig aufdrehen und anderen auf die Nerven gehen. Bisweilen ist es dabei auch aggressiv. Damit wird es verständlicher Weise auf noch mehr Zurückweisung stoßen und immer frustrierter. Es weiß sich nicht anders zu helfen. Das Kind setzt unbewusst eine so genannte manische Abwehr gegen seine Depression ein. Es ist höchst aktiv, redet vielleicht schnell, ist sprunghaft. Ab und an deutet sich aber vielleicht auch etwas Depressives an.

Das Tragische ist ja, dass das Kind dann meist tatsächlich in diesen „Störmomenten“ Aufmerksamkeit bekommt, aber eben nicht die, die es eigentlich vorher schon bräuchte. Deswegen möchte ich einladen, in solchen Störmomenten im Kopf abzuspulen, ob das Kind womöglich vorher wenig adäquate Aufmerksamkeit bekommen hat. Solche Verhaltensmuster werden oftmals generalisiert und dann lässt sich auch kein direkter „Auslöser“ mehr ausmachen. Diese Haltung und das Verhalten werden dann Teil der Persönlichkeit.

„Xy ist eben so, Kinder sind verschieden. Kinder dürfen doch wohl lebendig sein“ wird dann oft gesagt, um sich zu beruhigen. Dabei geht es nicht darum, Kindern ihre Lebendigkeit abzusprechen oder als krank zu labeln, sondern darum, dass sie offensichtlich in Not sind! Wenn ein Kind NIE in der Lage ist, sich zu beruhigen, still zu sein, in sich einzukehren, auch ruhig zu spielen, dann lohnt es sich, durchaus mal zu überprüfen, wie es dem eigenen Kind so geht. Natürlich sind Kinder lebendig, aktiv und oftmals laut! Wenn es aber nicht anders geht, dann könnte es durchaus sein, dass das Kind Hilfe braucht. Ein dauerhaft angespanntes Kind ist nicht glücklich! Oftmals entwickeln dauerhaft angespannte Kinder Kopfschmerzen oder auch andere somatische Beschwerden.

 

„Mein Kind weint ja nie“ Der Sonnenschein

Wer will es nicht, dieses ständig strahlende Sonnenscheinkind, das so ganz unkompliziert ist? Ich kann euch aus therapeutischer Erfahrung sagen: wenn so ein Sonnenschein mal mit den tausenden nicht geweinten Tränen und tausend unterdrückten Wutanfällen und Enttäuschungen in Kontakt kommt, dann wünschte ich, irgendjemand hätte früher nicht so dick mit schützender Sonnencreme eingeschmiert und gemerkt, dass es keinen Menschen gibt, der (fast) immer glücklich scheint. Im Hintergrund findet man bei Erwachsenen mit der oben kurz angedeuteten Depression der „toten Mutter“ schon früh diese Haltung.

Ein Kind, welches merkt, dass Eltern unglücklich sind, kann versuchen, die Eltern glücklich zu machen. Der Grund des Unglücks ist dabei ziemlich egal. Ein Kind sieht sich lange als Mittelpunkt und schreibt sich daher oft die Schuld zu. Wenn ein Kind mit seiner Bemühung der Erweckung Erfolg hat und die Eltern sich freuen und lachen und es so wieder Zuwendung bekommt, wird es dieses glücklich machende Verhalten immer wieder zeigen. Es wird merken, dass eigene Tränen oder Wut wenig Platz haben, weil es fürchten muss, den emotionalen Kontakt zum Gegenüber zu verlieren, wenn es nicht permanent gut aufpasst, die Eltern in ihren Gefühlslagen zu begleiten. Oftmals sind das Kinder, die besondere Begabungen ausbilden und gut leisten können. Angenehme, erfolgreiche Kinder… die einen sehr hohen Preis zahlen, weil sie glauben, ihre authentischen Gefühle für das Bestehen einer Beziehung zurücknehmen zu müssen.

 

Und was ist nun ein normales Kind?

Eine Frage, die mir so oder ähnlich immer wieder gestellt wird. Demnächst werde ich einen ausführlichen Artikel zu dieser und der Frage, ab wann Therapie sinnvoll ist, schreiben.

Aktuell nehme ich wahr, dass der Trend dazu geht, irgendwie alles normal zu finden. Dem möchte ich widersprechen, weil ich darin ein großes Problem sehe. Es geht nicht darum, ein Kind als „krank“ oder „falsch“ zu bezeichnen. Wenn ein Kind aber versucht, sich unbewusst in seiner Bedrückung z.B. durch Symptome mitzuteilen und ich aber denke „ach, alles gut, so sind Kinder eben“, dann bin ich nicht für mein Kind da und ignoriere es in dem Ausdruck seiner Bedrückung. Es heißt nicht, dass ich andauernd mein Kind beäuge und alles pathologisiere. Es ist zunächst nicht relevant, ob es nun pathologisch ist oder nicht. Jedes Symptom ist ein Kommunikationsangebot und sucht nach Verstehen und Verständnis. Dazu muss ich aber erkennen können oder zumindest offen sein, mich auf Hinweise einzulassen.

Um den Kreis zu schließen, geht es also primär darum, sich von seinem Kind anmuten zu lassen, es wahrzunehmen und es nicht zu ignorieren. Jeder Mensch möchte verstanden werden. Gerade Kinder brauchen Verständnis, welches Eltern befähigt, sich und ihr Kind anders zu verstehen. Wenn nämlich etwas wirklich innerlich und emotional (!) verstanden wurde, dann ist der erste Schritt getan.

 

Eure Madame FREUDig

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Literatur

André Green (2011) Die tote Mutter. Psychoanalytische Studien zu Lebensnarzissmus und Todesnarzissmus.*

 

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