Immer wieder begegnen mir in privaten und auch professionellen Kontexten Ängste von Eltern, dass Kinder und die Kindheit an sich heute viel zu schnell pathologisiert würden. Viele meinen, Kinder könnten angesichts der Bewertungen von allen Seiten gar nicht mehr richtig Kinder sein.

Ich mache die Beobachtung, dass einige Eltern sich- insbesondere den psychotherapeutischen- Angeboten gegenüber lange verschließen. Und das, obwohl es immer wieder Hinweise oder jemanden gibt, der irgendetwas Problematisches anspricht. Es ist bedauerlich, weil letzlich die Kinder diejenigen sind, die nicht gehört und verstanden werden. Rückmeldungen aus der Kita oder Schule ähneln sich oft: ein Kind müsse z.B. ja nur einen besseren Umgang mit seinen Aggressionen entwickeln, in ein Kissen schreien oder aufstampfen statt laut rumzubrüllen. Dann wäre es ja kein Problem mehr. Die Quelle im Inneren als Ausdruck kontroverser und manchmal eben auch quälender Persönlichkeitsanteile verschwindet hinter einem dann doch händelbaren Verhalten. Dass aber jedes Verhalten oder auch Symptom Ausdruck der ganz persönlichen und interessanten Wesensart eines Menschen ist, die man sich bemühen kann, in gewissen Grenzen zu erfassen, verschwindet hinter all zu schnellen Zuschreibungen von Normalität und Perfektion.

Jeder Mensch ist, wer er ist. Nicht mehr, aber eben auch nicht weniger. Wir Eltern machen vieles gut, manches können wir auf Grund unserer bisweilen schmerzlichen Subjektivität auch nicht anders als weniger gut. Das Sein zu verstehen und ggf. Entwicklungen zu unterstützen, können wir als Eltern leisten, wenn wir uns unserer eigenen Schwächen auch bewusst sind. Wir müssen unseren Kindern nicht vermitteln, dass sie perfekt sind, ebenso wie wir dies nicht sein können. Wir müssen ihnen vermitteln, dass wir sie lieben, auch wenn sie eben nicht perfekt sind und dass wir sie in ihrer Wesensart und ihren Ausdrucksformen verstehen wollen. Dass wir erkennen, dass sie in Not stecken, wenn sie unermesslich wütend sind und sich nicht anders zu helfen wissen. Wir müssen ihnen zur Seite stehen mit unserem Vorsprung an Lebenserfahrung und Wissen über gewisse Weltzusammenhänge, die sie noch nicht haben können. Das heißt nicht, dass wir ihren Äußerungen und Ideen nicht voller Interesse und Neugierde lauschen. Wir bringen sie in Zusammenhänge und übersetzen so innere Wahrnehmungen.

Wenn wir in dem Spektrum von Perfektion denken und handeln, und sei es aus dem Wunsch heraus, unseren Kindern damit zu zeigen, dass wir sie lieben, dann schießen wir am Ziel vorbei. Wo das Prädikat perfekt existiert, gibt es auch die Verneinung dessen. Mit jedem „du bist perfekt wie du bist“ pflanzen wir auch gleichzeitig die Angst vor der Unperfektion ein. Jenseits von perfekt und unperfekt gibt es so wahnsinnig viel Spannendes zu entdecken.

 

 

Mein Kind ist perfekt wie es ist. Und ich auch!

Ich erlebe, dass diese irgendwie trotzig anmutende Haltung aktuell ziemlich en vogue ist. Ich bin ok, du bist ok. Jeder ist gut, so wie er/ sie ist. Anstelle der Wahrnehmung von „da finde ich den Umgang mit dir echt schwierig“ und der brennenden Frage, woran das liegen könnte, ist der Wunsch, dass alles schnell wieder im Gleichgewicht ist, ohne dass irgendwer Schuld hat, präsent.

Die Angst, zu versagen, unfähig zu sein, nicht gut genug zu sein verkehrt sich ins Gegenteil. Es MUSS alles gut sein. Das Kind MUSS glücklich sein. Widerspruch unerwünscht! Keine Verwirrung stiften, keine Verunsicherung aufbringen. Dass aber ein gewisser Grad an Verunsicherung notwendig ist, scheint zu beängstigend. Dem Überdiagnostizieren der Professionellen steht eine kritische und eine Entwertung erwartende Elterngruppe gegenüber, die ihre Kinder vor der Pathologisierung schützen wollen.

„Kann es denn schon …?“

Ich verstehe natürlich, dass dieser Fragentenor „wann läuft das Kind“, „wann ist es trocken“, „wann schläft es alleine durch“ nervt. So viele Bereiche, in denen sich ausdrücken könnte, dass irgendetwas nicht nach Norm läuft. Dabei sind es durchaus gerechtfertigte Fragen: es würde ja eigentlich keine Eltern verwundern, dass der Arzt sich besorgt zeigt, wenn das Kind mit acht Monaten keinerlei Anstalten macht, sich zu drehen.

Ausreichend große und gut durchmischte Statistiken geben uns einen guten Anhalt, wann eine bestimmte Anzahl von Kindern etwas kann. Wenn ein Kind aus diesem Raster herausfällt, muss die Frage gestellt werden, wie das kommt. Auch, wenn das elterliche Gefühl, nichts richtig machen zu können, sofort vor der Tür steht. Dass es aber womöglich gar nicht um eine Entwertung geht, sondern darum, eventuelle Hemmungen in der kindlichen Entwicklung festzustellen, um dem Kind ein größeres Spektrum zu ermöglichen, ist doch das eigentlich Wichtige.

Es fällt vielen schwer, ihr Kind mit einem gewissen Abstand zu beobachten und auch eine Bewertung des Verhaltens vorzunehmen. Bewertung ist in dieser „wir sind alle gut“- Wolke ohnehin sehr schwierig. Mit Bewertung meine ich eine fragende Haltung, die verstehen will. Es geht (mir) dabei nicht um gut/ schlecht, sondern um die Frage nach Bedeutung und Sinn.

 

 

Sinn im Verhalten/ Symptom verstehen

Wenn ich ein Verhalten oder auch ein Symptom als Ausdruck innerer Fantasien und Gedanken, Ängste und Wünsche auffasse, dann nehme ich eine viel größere Vielfalt menschlichen Fühlens wahr. Wenn ich nicht mit „das ist normal, so sind Kinder eben“ pauschal auf alles reagiere, weil ich Angst habe vor einer gut/ schlecht Bewertung, die ich offensichtlich ja selber vornehme, dann kann ich vollkommen interessiert feststellen: das ist ja interessant. An dieser Stelle habe ich mehr dazu geschrieben, warum nicht die Handlung, sondern die Haltung das Wesentliche ist.

Es ist eine sehr begrüßenswerte Entwicklung, dass viele Eltern heute ganz grundlegend wissen, dass Kleinkinder und Babys auf Grund einer gewissen Unreife der psychischen Funktionen (Selbststeuerung, Affektkontrolle etc.) einfach noch nicht in der Lage sind, sich „am Riemen zu reißen“. Dass es normal ist, dass ein Kleinkind bei einem Nein auch mal die Fassung verliert und dass es nicht bedeutet, dass es deswegen ein Soziopath wird. Es ist schön, dass das Begleiten dieser emotionalen Ausnahmezustände für viele dazugehört.

Manches können wir als Eltern gut, anderes nicht. Wenn wir anerkennen, dass wir als Eltern (Menschen im Allgemeinen) Schwierigkeiten haben, bestimmte Affekte bei unseren Kindern oder anderen auszuhalten, wir dann innerlich oder real am Liebsten fliehen würden, dann spüren wir schmerzlich unsere Grenzen. Wir spüren, dass wir nicht anders können, obwohl wir es vielleicht gerne möchten. Das ist traurig! Und das darf es sein. Wir dürfen betrauern, dass wir unseren Kindern nicht alles geben können. Wir können das nur dann betrauern, wenn wir uns unsere Grenzen und Fehlbarkeiten bewusst machen.

 

Warum ist die Bedeutung eigentlich wichtig?

Jedes Verhalten lässt sich auf einem Kontinuum beschreiben. Muss ich immer alles kontrollieren oder kann ich mich auch der Kontrolle anderer überlassen, ohne dass ich mich unwohl fühle? Kann ich mich in enge und vertraute Beziehungen begeben oder muss ich immer eine gewisse Distanz wahren? Geht irgendwas schief und schreibe ich die Schuld immer mir zu oder immer anderen? Fühle ich mich immer überwertig oder immer ganz minderwertig?

Es wird deutlich, dass im besten Falle irgendwie eine Mitte gefunden wird. Nicht, weil man dann normal ist, sondern weil man dann nicht andauernd Angst haben muss vor Kontrollverlust, Schuld, Vereinnahmung. Sich auf Extremen eines Kontinuums zu bewegen bedeutet, dass das entgegengesetzte Extrem große Ängste auslöst. Dass ein Mensch sich auf Extremen bewegt, hat seine Geschichte! Er hat Erfahrungen gemacht, die ihn mit intensiven Emotionen konfrontiert haben und die nun vermieden werden sollen. Würde man frühzeitig in der Entwicklung eines Kindes wahrnehmen und darauf reagieren, dass es sich auch nur in den Extrembereichen aufhalten kann, dann könnte man so vielen Menschen helfen. Sie könnten als Erwachsene womöglich ein ausgeglicheneres und erfüllenderes Leben mit weniger Angst führen.

„ADHS gibt es nicht!“

Immer wieder hört man empörte Elterndebatten, die hinter der Zunahme der Diagnosen im Kindesalter nichts weiter als reine Profitgier der Ärzte und Therapeuten wittern. Ich mag dem in Gänze auch gar nicht widersprechen, da die Schlussfolgerung bestimmter Diagnosen für viele Kollegen ist, Medikamente zu verschreiben und es davon sicherlich auch Profiteure gibt. Nun ist aber der Leidtragende das Kind, was kein Gehör findet. Ähnlich wie es Erwachsene gibt, die anderen bei Ängsten oder Depressionen raten sich doch nur mal zusammenzureißen oder mal ein bisschen Urlaub zu machen, sieht es bei den Störungsbildern im Kinder-und Jugendalter ähnlich aus.

Jedes Symptom will etwas mitteilen!

Ich möchte im Folgenden ein paar gedankliche Anregungen geben, die vielleicht deutlich machen, dass Diagnosen nichts weiter sind als deskriptive Zusammenfassungen und dass es darum geht, wie in jedem einzelnen individuellen Fall diese Symptomatik verstanden werden kann. Alle diese Fälle sind individuell und bei demselben „Problem“ kann es viele verschiedene Ansätze geben. Oftmals sind auch verschiedene Erklärungen/ Deutungen nicht falsch.

 

ADHS

Es könnte sein, dass der unaufmerksame 6 Jährige, der nach 2- 3 Minuten aufspringt, den Kontakt zu Mitmenschen nicht aushält. Dass es ihn verwirrt, was da an widersprüchlichen Ausdrücken im Gesicht des Gegenübers zu lesen ist. Vielleicht hat er schon früh bei Mutter/ Vater erlebt, dass ihn ihre ambivalenten Gefühle vollkommen überfordert und verunsichert haben. Mögen die mich nun oder nicht? In der ständigen, nervösen Hin- und Herbewegung des Kindes könnte sich genau diese frühe elterliche Ambivalenz ausdrücken. Dass es jemanden gibt, der dieses Zusammenhang wahrnimmt, den Eltern das deutet und ihnen einen Raum bietet, genau diese ambivalenten Gefühle zu besprechen und vielleicht zu betrauern, was mit der Geburt alles verlorenging, ist eine Chance, die nicht genutzt werden kann, wenn die Hyperaktivität als ganz normales kindliches Verhalten verstanden wird.

 

Schlafstörungen

Ein 2,5 jähriges Kind, was nie in der Lage ist, bei nächtlichem Erwachen alleine einzuschlafen, könnte ebenso verschiedenes ausdrücken. Ist es tagsüber zu lange getrennt von den Fürsorgepersonen und holt sich so etwas, was es braucht? Muss es sich deswegen von der elterlichen Fürsorge abhängig machen und kann einen nächsten Autonomieschritt nicht gehen, weil es vielleicht unbewusst fürchtet, dass seine Eltern dann gar nicht mehr für es da sind?

Zum Schlaf habe ich hier einen Artikel geschrieben.

 

Essensverweigerung

Verweigert ein Kind immer Nahrung und isst nur heimlich etwas, was Mutter/ Vater nicht zubereitet hat? Es könnte sein, dass das Kind sich von der überfürsorglichen Aufopferung der Eltern befreien will. Dass es es nicht aushält, so abhängig und angewiesen zu sein. Vielleicht sind Mutter und Kind seit Jahren rund um die Uhr zusammen und es gibt keinen eigenen Raum, in dem das Kind sich ohne Mutter erkunden kann. In der Verweigerung des Essens erkämpft das Kind sich womöglich den ersehnten Autonomieraum.

Zu diesem Thema habe ich an dieser Stelle schon einmal etwas geschrieben.

 

Trennungsangst

Ein 5- jähriges Kind hält es nicht aus, von seiner Mutter getrennt zu sein. Immer muss das Kind genau wissen, wo Mutter ist, um sich überhaupt auf ein Spiel einlassen zu können. Es kann nicht spielen oder Kontakt zu anderen aufnehmen, so lange es alleine ist. Es könnte sein, dass das Kind unbewusst mit den Ängsten der Mutter, die drei Fehlgeburten erlebt hat, identifiziert ist. Die Mutter sorgt sich, auch dieses Kind verlieren zu können, was ihr nicht bewusst ist. Sie hat ihre Angst abgewehrt, indem sie sie auf das Kind projiziert hat. So spürt nun dieses Kind die Angst, welches aber gar nicht seine ist.

 

Keine Sprachentwicklung

Ein 3- jähriges Kind, welches nur rudimentär spricht (organisch alles in Ordnung) könnte sich nur schwer aus der engen Mutter- Kind- Bindung lösen können. Sprache führt etwas Trennendes ein. Die Idee nämlich, dass jemand anders fühlen könnte, worüber man sich austauschen müsste, kann dazu führen, länger in dieser engen, wortlosen Verbindung zu verharren. Es geht dabei nicht um Leistung, sondern um die Frage, was Mutter und Kind da miteinander am Laufen haben, dass sich eigentlich niemand in die Kommunikation mit einbringen kann und jeder Dritte aus der Beziehung ausgeschlossen werden muss. War die frühe Mutter- Kind- Bindung vielleicht gestört durch die Trennung vom Vater oder sonstiges, so dass diese frühe Phase nicht überwunden werden kann?

 

Fazit

Niemand muss und kann perfekt sein. Winnicott prägte den für mich allerwichtigsten Begriff des „good enough motherings“. Wir müssen uns mit unseren eigenen Fehlbarkeiten abfinden und einsehen, dass wir auf Grund unserer Subjektivität alle unserem Kind sein Päckchen mitgeben werden. Trotz der Angst, der Schuldgefühle und der Scham, uns mit unseren empfundenen oder auch realen Schwächen auseinanderzusetzen, sollten wir uns nicht davor verschließen.

Es geht darum, unsere Kinder in ihrem Ausdruck zu verstehen. Und jedes Symptom teilt etwas mit.

 

Eure Madame FREUDig

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