Es gibt Themen, bei denen trete ich – egal, was ich dazu auch schreiben möge – in jedem Falle gleich ganz verschiedenen Menschen auf die Füße. Sogar mir selbst. Regelmäßig. Geschlecht und Gender gehören dazu. Schon weil wir uns die Geschlechter unserer Kinder während der der Schwangerschaften nicht haben verraten lassen, mussten wir uns einiges anhören.

Da ist viel Chaos – und das nicht nur in meinem Kopf, sondern auch in der gesellschaftlichen Debatte. Vorwiegend Gefühlschaos, doch auch die Argumente laufen quer, in Sackgassen, drehen sich im Kreis. Sehr oft aber auch kommt es zu Erhellungen. Ich will es nicht gleich Erleuchtungen nennen, aber ich komme mit meinen Denkprozessen diesbezüglich voran und es zeigt sich, dass das Durcheinander kein Perpetuum Mobile ist. Es wird eben nicht angetrieben von den immer gleichen Fragen und den ewig gleichen Antworten, welche die Fragen ja doch nicht beantworten können.

So gleich die Fragen zwar manchmal erscheinen mögen, so stellen sie sich doch vor immer neuen Hintergründen und auf Basis von individuellen und gesellschaftlichen Veränderungsprozessen. Wir diskutieren heute anders über Geschlechterfragen als früher und werden schon morgen wieder einen anderen Diskussionsstand haben. Es mag sich manchmal so anfühlen, als bewegten wir uns alle im Kreis, aber ich bin davon überzeugt, dass wir dies genau nicht tun.

Verwirrend und wichtig

Diffus.

Ja, wenn es um Geschlecht, Gender und Gleichberechtigung geht, dann ist diffus wohl die passendste Beschreibung für das, was da zwischen meinen Ohren geschieht. So jedenfalls fühlt sich meine Gedankenwelt, die sonst recht geordnet daherkommt, an.

Diffus aber sollen meine Texte ja eigentlich nicht sein. So ein roter Faden wäre wirklich was Feines und so las ich in den letzten Wochen, Monaten, sogar Jahren unterschiedlichste Texte über Geschlechtsdiskriminierung, Gender-Pay-Gap, die Rosa-Hellblau-Falle, über Gender und Sexualität, über biologisches Geschlecht vs. sozial konstruiertes Geschlecht, gendergerechte Sprache, Frauenquoten. Texte über richtigen und falschen Feminismus, über Notwendigkeit und Unsinnigkeit des gesamten Themenkomplexes.

Von wegen nur Genderkram: Vom Chaos in meinem Kopf | Genderwahn, Geschlecht, Rosa-Hellblau-Falle | Terrorpüppi | Reflektiert, bedürfnisorientiert, gleichberechtigt

Anecken gewollt – doch wo stehe ich eigentlich?

Nicht nur Wohlfühl- und Kuschelblogposts zu schreiben und somit anzuecken – damit habe ich wirklich kein Problem. Gerade bei diesem Thema aber hadere ich einfach mit mir selbst. Ich habe daher das Schreiben immer wieder auf diesen einen ominösen Zeitpunkt in der Zukunft verschoben, ab dem ich eine zumindest für mich klare Position vertreten kann. Oder zumindest halbwegs klar. Doch genau die habe ich nicht und werde sie auch nicht so schnell finden. Doch deswegen darüber dann wirklich nicht schreiben? Damit muss jetzt Schluss sein. Dazu ist mir das Themenfeld einfach zu wichtig.

Die gesellschaftliche Debatte um Geschlecht, Gender und Gleichberechtigung ist eben kein Diskurs, in welchem ich mich mühelos verorten kann. Zwar fällt es mir sehr leicht, bestimmte Standpunkte ohne jeden Zweifel von mir wegrücken zu können: So sind Frauen und andere Nicht-Männer beispielsweise eben nicht einfach mitgemeint, wenn man das generische Maskulin verwendet.

Diversen biologisch begründeten Unterschieden zwischen den Geschlechtern und auf diese kausal zurückgeführte Ungleich- und Ungerechtigkeiten zeige ich ebenso den diskursiven Mittelfinger. Bisweilen aber erzeugen viele Betrachtungsweisen bei mir Bauchschmerzen, eben weil ich ihnen weder einfach zustimmen, noch sie mühelos von der Hand weisen kann. Ich kann sie dann nicht ignorieren und ebenso wenig einfach übernehmen. Die Folge sind sehr diffuse Gedankengänge. Bei vielen Aspekten wünsche ich mir Veränderungen und weiß zugleich nicht so recht, welche genau.

Von schmerzhaften Veränderungen und Gegenwehr

Je mehr ich also über das Thema weiß, desto weniger weiß ich wirklich und desto weniger ist mir meine ganz persönliche Position im Detail bewusst. Zugleich aber ist mir in den letzten Jahren deutlich geworden: Das Thema ist verdammt wichtig. Persönlich und gesellschaftlich. So manches mag nerven, ist anstrengend. Doch muss Veränderung nicht auch immer weh tun? Unangenehm sein?

Oftmals geht der eigentlichen inhaltlichen Auseinandersetzung eine Gegenwehr voraus (oder würgt diese ab), bei der es vor allem um Fragen der Ästhetik und der Gewohnheit geht. Man wolle sich nicht umgewöhnen und überhaupt, der Genderkram, ach was Genderwahn, verunstalte doch nur die Sprache. Wie schaut das denn bitte aus?!

Mir geht es da oft nicht anders.

Veränderungen tun weh. Sie fallen eigentlich immer schwer. Genderthemen mögen anstrengend, ja womöglich nervend sein, aber sie sind wichtig. Also grübelt, diskutiert, streitet. Nur so kommen wir alle voran. | Von wegen nur Genderkram: Vom Chaos in meinem Kopf | Genderwahn, Geschlecht, Rosa-Hellblau-Falle | Terrorpüppi | Reflektiert, bedürfnisorientiert, gleichberechtigt

Vom Ästhetik-Mimimi

Ein bisschen muss ich zu geben: Früher hat mich so manch Schreibweise auch gestört. Das Binnen-I, werte LeserInnen, störte mein ästhetisches Empfinden. Genauso wie eine konsequente Mitführung der weiblichen Form (Liebe Leser und Leserinnen!) oder Varianten mit Bindestrich und Sternchen meinen Lesefluss unterbrachen (nicht wahr, ihr Leser/-innen und Leser*innen). Ästhetik und der gewohnheitsmäßige Lesefluss aber sind keine festen Größen. Nicht nur gelten sie für alle keineswegs gleichermaßen, sondern sie sind vor allem eines: änderbar. Bei solchen Fragen bleibt man nur stehen, wenn man sich mit den viel schwierigeren Fragen dahinter gar nicht erst beschäftigen möchte. Ist ja auch viel leichter. Kann ich wirklich verstehen.

Sprache ist immer auch exkludierend. Immer ausschließend – und einschließend zugleich. Sobald wir etwas bezeichnen, schließen wir etwas ein – nämlich das, was wir bezeichnen – und schließen anderes aus, nämlich das, was wir damit nicht bezeichnen. So funktioniert Denken, Handeln und eben auch Sprechen prinzipiell. Begriffe, Kategorien und die damit verbundenen Grenzen sind zudem immer Bestandteil unserer Gewohnheiten.

Gewohnheiten – alles ändern oder nichts?

Gewohnheiten zu ändern, ist allerdings verdammt schwierig – und Veränderungen brauchen Zeit. So manches muss man erst einmal sacken lassen, um es wirklich in seiner ganzen Tragweite begreifen zu können. Verstehen ist ein Prozess und der kann wirklich lange dauern. In Bezug auf Genderfragen ist das zumindest bei mir ein nicht absehbarer Prozess und der dauert so manch Person bestimmt schon viel zu lang. Anderen wiederum bin ich viel zu schnell damit. Gleiches gilt für mich. Andere sind mir viel zu schnell, viel zu radikal – oder auch viel zu langsam, zu stur, zu sexistisch.

Ach wenn es doch nur um Lesegewohnheiten ginge. Das wäre schön. Stattdessen geht es um grundlegende Wahrnehmungs-, Denk-, Bewertungs- und Handlungsgewohnheiten – und eben diese liegen all unserem Denken und Tun, unserem ganzen Sein zugrunde. Wenn da Schieflagen auch nur zu vermuten sind, die bei Teilen unserer Gesellschaft zu Nachteilen führen, sollten wir dann nicht doch jenseits von reinen Ästhetik- und Bequemlichkeitsdebatten gemeinsam darüber nachdenken, diskutieren, streiten?

Geschlecht gibt Orientierung

Als Soziologin steht es für mich außer Frage, dass soziale Schemata grundlegend sind, um überhaupt handeln zu können. Wenn ich permanent alles immer weiter und weiter hinterfragen würde, dann bliebe mir nichts anderes übrig, als zu verharren. Umgekehrt ist Wandel auch nur möglich, wenn Dinge hinterfragt werden und eben nicht alles immer nur so fortbesteht. Jeder bewegt sich zwischen diesen beiden Polen, mal mehr der einen, mal mehr der anderen Seite zugewandt (hier auch schon zur reflektierten Elternschaft!). So ist es auch beim Thema Gender.

Geschlecht oder Gender – auch das ist ja irgendwie schon eine Positionierung  – ist eine grundlegende Kategorie, entlang der sich Gesellschaft organisiert. Zumindest unsere und auch viele weitere (und frühere). Vieles davon ist wirklich fragwürdig, weil es Menschen qua ihres Geschlechts aus bestimmten Rollen ausschließt und andere wiederum in Rollen hineinpresst werden, die nicht zu ihnen passen.

Aber ist die Kategorie „Geschlecht“ deswegen überflüssig? Gibt es gar überhaupt keine Unterschiede? Genau da bekomme ich nämlich Bauchschmerzen. Welche Unterschiede sind nur konstruiert und welche sind eben mehr als das? Gibt es Unterschiede, die vielleicht sogar wünschenswert sind oder gar bleiben? Welche wiederum sind rigoros als einfach nur sozial konstruiert und exkludierend, ja diskriminierend abzulehnen und nachhaltig abzubauen? Und von welchen Zeithorizonten reden wir eigentlich?

Für mich sind Kategorien, gar Schubladen, nichts per se Schlimmes. Mit Begriffen und Kategorien gehen zwangsläufig Grenzen einher. Schlimm wird es für mich eigentlich erst dann, wenn Grenzen keine Durchlässigkeit oder nur sehr einseitig aufweisen. Sie dürfen nicht starr und absolut sein, sondern sollen vor allem Orientierung bieten. Wenn jemand spürt, dass sie*er nicht mehr oder vielleicht noch nie in eine bestimmte Kategorie passt bzw. gepasst hat, dann sollten diese Menschen die Definitionsmacht darüber haben, wer sie sind bzw. als wen andere sie sehen sollen. Wie kann das in puncto Geschlecht gesellschaftlich gestaltet werden? Sicher nicht mit wahnwitzigen binären Rosa-Hellblau-Differenzierungen, aber auch nicht durch Negierung des Geschlechts.

Diese Sache mit der Diskussionskultur

Um die Diskussionskultur ist es offline wie online leider oft eher bescheiden stellt. Zum Problem des Whataboutism, also zum Relativieren (der Relevanz) von Argumenten und ganzen Themen durch Gegenvorwürfe und Umlenkung der Diskussion weg vom eigentlichen Argument bzw. Thema (gerne verbunden mit „es gibt doch wirklich wichtigeres, nämlich…“), habe ich schon geschrieben. Bei Genderfragen wird das im besonderem Maße angewendet.

Vielfach haben Genderdiskussionen dann wirklich keinen Sinn, denn das Thema wird entweder als solches schon als irrelevant erklärt oder aber – das andere Extrem – man wird ausschließlich als Sexist*in markiert oder als transfeindlich (sogar Trans-Menschen werden nicht selten als transfeindlich angegriffen) oder als menschenfeindlich oder… ach, ich hab schon wirklich viel gelesen und gehört. Dass eine Diskussion, also ein echter Austausch von Argumenten, das gemeinsame laute Denken, offene Gedankenspiele so nicht möglich sind, ist offenbar…

Wenn ich selbst Texte lese, dann fällt mir in der Regel auf, ob diese gendersensibel geschrieben wurden oder eben nicht. Das Ding ist, der Aspekt Gender ist immer an Bord. Aus absolut jedem Thema, jeder Diskussion, jedem Ereignis kann man immer auch Genderfragen ableiten. Vielfach sollten wir das auch. Auch. Schwierig finde ich es aber häufig, dass die jeweiligen primären Themen dann stumm gestellt werden. Das ist nicht prinzipiell schlimm, weil die Genderdiskussion sehr oft so fundamentalere Punkte berührt. Aber die verdrängten Diskussionsthemen haben dennoch ihre Berechtigung. So oft würde ich mir wünschen, das eine oder andere getrennt zu diskutieren – und vielleicht ebenso oft würde ich mir wünschen, dass die Genderfrage nicht als Sonderfrage exkludiert wird, die mit dem Ursprungsthema nichts zu tun hat. Sehr oft hängen ja beide Diskussionsstränge eng zusammen.

Oft frustriert Kritik einfach nur, denn sie wirkt dann wirklich wie eine Keule

Es ist unverkennbar kompliziert. Für mich jedenfalls. Ich mag einfach nicht immer Genderfragen sofort ins Zentrum rücken. Ja es befremdet mich sogar massiv, wenn eine Frau über die besondere Beziehung von Mutter und Kind beim Stillen schreibt und dann ausschließlich darüber diskutiert wird, ob denn jetzt nur Mütter stillen würden… natürlich kann man darüber diskutieren, aber wenn dann gar nicht mehr über die Stillbeziehung selbst gesprochen wird, dann empfinde sicher nicht nur ich Frust… Muss man nicht über beides diskutieren können?

Kritik so zu äußern, dass das Gegenüber offen für diese Kritik bleiben kann, ist eine Kunst. Manche beherrschen sie besser, andere sehr viel schlechter. Würden viele es besser beherrschen, dann wäre so manche Tür womöglich etwas weiter und länger offen, um ein Umdenken einsetzen zu lassen.

Sehr oft bin ich frustriert und genervt. Muss das so sein?

Und was ist jetzt mit dem Genderkram?

Wer mir erzählen will, dass es doch Schlimmeres gäbe, dem mag ich nur sagen: Dann setze du dich doch mit diesem Schlimmeren auseinander und vermutlich werden wir uns wieder sehen. Dieser Genderkram ist nämlich viel, aber sicherlich kein Kram, den man einfach beiseite schieben kann. Es geht nicht nur um Sprache. Es geht um so viel mehr.

Tausend Fragen schwirren mir durch den Kopf. Täglich aufs Neue und das schon ohne dass ich diesem Thema in meinem Alltag absolute Priorität einräume. Ich reduziere nicht alles auf Genderfragen und doch begegnen sie mir einfach überall. Sie begleiten mich unentwegt.

Ich gebe zu, dass es manchmal anstrengend ist, wenn ich mir plötzlich nicht mehr sicher bin, ob ich dieses oder jenes so noch sagen, ja denken kann (darf?). Doch ich sehe auch, wie vieles sich schon bei mir geändert hat. An die früher beinahe als verstörend wahrgenommenen  gendergerechten Schreibweisen habe ich mich nicht nur gewöhnt, ich priorisiere mittlerweile sogar die mit den Sternchen in meiner Schriftsprache. Also meistens. Meine Gewohnheiten sind echt hartnäckig. Vor allem meine mündliche Sprache. Auch sonst achte ich viel stärker als früher darauf, nicht allzu stark in die Rosa-Hellblau-Falle zu tappen. Nicht nur bei meinen Kindern, sondern auch beruflich und in meinem sonstigen privaten Leben.

Lasst uns diskutieren, damit vielleicht unsere Kinder einmal sein können, wer sie sind und sein wollen

Auch mir tut Veränderung weh. Sie ist wirklich nicht bequem, doch was sind schon solche Irritationen, wenn dadurch bisher ausgeschlossene Gruppen nun nicht nur sprachlich eingeschlossen werden, sondern wirklich teilhaben können?

Was sind schon ein paar Umstellungsschwierigkeiten, wenn durch die ausgelösten Diskussionen gesellschaftliche Fehlentwicklungen und Ungerechtigkeiten strukturell als Problem erkannt und Schritt für Schritt gelöst würden?

Sind gleiche Chancen, egal welchen Geschlechts oder egal welcher sexuellen Präferenz, nicht genau das, was wir uns für unsere Kinder wünschen?

Wenn wir hierzu über gendergerechte Sprache, über biologische Geschlechter und Gender, über Sexualität, die Rosa-Hellblau-Falle, über persönliche und gesellschaftliche Grenzen und Grenzüberschreitungen diskutieren müssen, dann lasst uns genau das tun. Damit wir alle die sein können, die wir sein wollen – ohne andere dabei strukturell einzuschränken und auszuschließen. Ausgang ungewiss.

 

Eure Jessi

 

Falls dir mein Blogpost gefallen hat, dann pinne ihn doch auf Pinterest oder abonniere einfach unseren Newsletter.

Von wegen nur Genderkram: Vom Chaos in meinem Kopf | Genderwahn, Geschlecht, Rosa-Hellblau-Falle | Terrorpüppi | Reflektiert, bedürfnisorientiert, gleichberechtigt