Vor kurzem erschrak mich meine Tochter mit genau diesem Satz, den ich gehofft hatte, nie von meinen Kindern zu hören.

Sie bezog diesen Satz nicht auf Leistungen, nicht auf „Ich bin nicht gut in der Schule“, was auch nicht schön, aber irgendwie verkraftbar gewesen wäre, nein, sie bezog diesen Satz auf sich. Sie als Mensch, als Persönlichkeit, fand sich nicht gut genug.

Warum?

Taktile Empfindlichkeit als Auslöser

Auslöser war ein Wutanfall. Ich weiß gar nicht mehr warum, vermutlich, weil sie etwas anziehen sollte. Etwas heißt an dieser Stelle „irgendetwas“. Denn sie ist taktil empfindlich. Also eigentlich heißt es wohl „taktil überempfindlich“, aber das „über“ lasse ich inzwischen gern weg – denn wer entscheidet schon, wieviel Empfindlichkeit zu viel ist? Tatsache ist, dass sie wenig Kleidung erträgt, meist genau ein Set an Lieblingsklamotten. Das trägt sie dann halt immer, wir haben gelernt damit umzugehen (also z.B. ihre Sachen immer mitzuwaschen, das einzuplanen, auch die Trocknungszeit) und meistens klappt das sehr gut. Aber wenn die Lieblingssachen gerade doch in der Wäsche sind oder irgendwelche Gründe (z.B. ihr Hobby) andere Kleidung erfordern und dann vielleicht noch Zeitdruck dazu kommt, weil wir los müssen, dann stresst dies das Kind ganz fürchterlich. Dann weiß sie nicht wohin mit sich. Dann folgen Schreie und Türenknallen. Gefühlsstark ist sie eben auch.

Ich weiß das. Ich rechne mit dem Wutanfall und finde es nicht schlimm. Aber schon manchmal stressig, wenn wir los müssen und ich weiß, dass der Zug nicht wartet oder die Trainerinnen schimpfen. Also werde ich manchmal auch lauter „Wir müssen JETZT los“. Mein Mann und Sohn gehen in solchen Momenten in Deckung. Oft ganz wortwörtlich. Unter einer Decke hervor, unter der sich der Sohn verkrochen hat, kommt dann manchmal „Sie soll aufhören! Ich ertrag das Geschreie nicht“.

Es lässt sich nicht leugnen, dass es anstrengend für alle ist. Und genau das ist wohl der Auslöser dafür, dass mein wunderbares Kind an sich zweifelt. Dass sie daran zweifelt, dass sie gut genug ist. Sie möchte nicht so wütend sein. Sie möchte uns keinen Stress bereiten. Aber sie kann nicht anders.

Wie reagiere ich da?

Ich glaube, mich hat dieser Satz auch deshalb so schockiert, weil er allem widersprochen hat, woran ich glaube. Immer hatte ich gedacht, dass ich meinen Kindern in erster Linie eines vermittelt habe: Dass sie großartig sind, so wie sie eben sind. Ich glaube auch, dass das sehr wichtig ist:

Ich denke, die schönste sich selbst erfüllende Prophezeiung ist: „Das Kind ist gut so, wie es ist.“

Deswegen traf mich dieser Satz besonders. Und deswegen habe ich auch einen Moment gebraucht, ehe ich antworten konnte. Dann habe ich gesagt: „Es stimmt nicht. Du bist gut. Du bist sogar ganz wunderbar, genau so wie du bist.

Ich habe beschrieben, wie gut es ist, dass Menschen unterschiedlich sind und sich ergänzen. Das stimmt für unsere Familie besonders: „Ich glaube, wir passen so zueinander, wie wir sind. Ich bin eher ruhig und du bist eher gefühlsstark. Papa ist eher wie du und dein Bruder eher wie ich. Das passt doch sehr gut zusammen! Ich glaube, ich habe mir deinen Papa als Partner auch deshalb ausgesucht, weil er genauso ist, so sensibel, so gefühlsstark. Weil wir uns darin so gut ergänzen. Ich bin eher gelassen – aber ohne deinen Papa wäre mir oft langweilig. Und genau so ist es mit dir und mir. Wir ergänzen uns.

Die Stärken, die in den Schwächen liegen

Bewerbungsratgeber sagen einem doch oft, dass man als Antwort auf die Frage nach einer Schwäche mit einer Schwäche antworten soll, die auch eine Stärke sein kann, „Perfektionismus“ zum Beispiel, kommt als Schwäche daher, birgt aber die positive Seite „Auf alle Details achten und ein perfektes Ergebnis abliefern“ in sich. Für manche Jobs braucht es Perfektionisten. Ich glaube, die tiefere Wahrheit dahinter ist, dass fast jede Schwäche auch eine andere Seite hat, eine positive. Und das alle diese Eigenschaften irgendwo benötigt werden. Die positiven Seiten gilt es zu sehen. Also habe ich sie meiner Tochter gezeigt.

Ich habe die Stärke geschildert, die in ihren tiefen Gefühlen liegt: „Es hat viele Vorteile so zu sein, wie du bist. Du siehst es jetzt noch nicht so. Aber es ist gut, die Gefühle rauszulassen und nicht in sich zu vergraben. Es wäre nicht gesund, wenn du es alles mit dir ausmachst. Und der starke Willen, den du auch hast, dein großer Ehrgeiz, die werden dazu führen, dass du mal alle Ziele erreichen kannst, die du dir steckst. Weißt du, ich hätte vielleicht beruflich mehr erreichen können. Aber mir fehlt dein Ehrgeiz. Der ist vielleicht nicht immer bequem, aber er hat eben auch große Vorteile. Und dass du so sensibel bist, ist super! Du fühlst ja nicht nur die Anziehsachen, sondern du nimmst alles toll wahr. Geräusche, Gerüche und vor allem auch Gefühle von anderen.

Sie hat sich beruhigt, sie hat mir geglaubt. Das hat mich sehr erleichtert.

Den Beweis hat sie selbst gebracht

Ein paar Tage nach diesem Gespräch haben wir uns über etwas anderes unterhalten: Die Schule. Die erste Klasse war furchtbar für mein Kind, alles neu, ungewohnt, zu viel auf einmal, an das sie sich gewöhnen musste. Aber dann sagte sie vor Kurzem diesen Satz:

„In der zweiten Klasse ist es viel besser als in der ersten. Jetzt sind wir ein richtiges Team und können miteinander umgehen. Wir wissen sowas wie, dass Max es nicht böse meint, wenn er Anfälle bekommt. Dass er dann nur etwas nicht hinbekommt. Dann helfen wir ihm einfach.“

Abgesehen davon, dass es einfach total schön ist, dass sie sich in der zweiten Klasse so wohl fühlt, freut mich diese Aussage besonders, weil ich darin erkenne, dass die Punkte, bei denen sie mit sich unzufrieden ist, dazu führen, dass sie Verständnis dafür entwickelt, dass auch andere nicht alles so hinbekommen, wie sie es gern würden – und dass die richtige Reaktion darauf ist, Hilfe anzubieten.

Die positiven Seiten zeigen

Ich habe mit meiner Tochter gesprochen:

Du hast doch vor Kurzem gesagt, dass du manchmal denkst, dass du nicht gut bist. Weil du manchmal so wütend wirst. Ich glaube, gerade, weil du das kennst, kannst du auch sehen, wie andere sich in dieser Situation fühlen. Und dass sie es nicht böse meinen. Das heißt, es ist total gut, dass du so bist. Weil du so anderen helfen kannst.

Stimmt!“, sagte die Tochter.

Es war nicht unser letzten Gespräch zum Thema. Nach vielen Wutanfällen greifen wir das wieder auf. Immer komme ich auf diesen Satz von ihr zurück. Bestärke sie darin, wie gut sie ist, auch immer wieder mit neuen Aspekten. Ich erkläre ihr, was „temperamentvoll“ bedeutet und dass auch das positiv ist. Ich sage ihr, wie schön ich es finde, dass sie sich entschuldigt, wenn sie wütend war. Dass sie Einsicht zeigt. Ich sage ihr, wie gut es ist, dass sie an sich arbeiten will, wenn sie wirklich etwas stört. Aber das es mich nicht stört.

Ich finde sie wunderbar, genau so wie sie ist.

Und ich glaube, inzwischen findet sie sich selbst auch wieder ziemlich gut. Ich frage sie immer wieder: „Findest du dich gut, wie du bist?“. Und aus einem kleinen leisen „Ja“ ist inzwischen wieder ein großes, selbstbewusstes „Ja!“ geworden.

Ganz vielleicht hat das auch mit einer anderen Sache zu tun: Sie strengt sich sehr an, ihren eigenen Maßstab an „gut“ zu erfüllen. Das heißt, ihre Wutanfälle sind inzwischen deutlich weniger geworden. Sie reißt sich zusammen. Sie will uns keine Umstände machen und ihre Konsequenz ist, das dann auch nicht zu tun. Und vielleicht ist das am Ende doch einer der wenigen Aspekte, die gut sind, an einem Kind, welches sind (temporär) nicht gut genug fühlt: Es kann auch ein Ansporn sein, etwas zu ändern. Wenn das gelingt, ist der Stolz umso größer und diese Phase kann sogar gut für das Selbstbewusstsein sein.

Nur weiß man das, wie bei so vielen Dingen, leider nicht, während man drin steckt.