Es wartet ein wirklich spannender Gastbeitrag auf uns. Maike vom Blog Bücherhausen rezensiert eigentlich Bücher, doch heute berichtet sie uns von ihren sehr speziellen Erfahrungen, die sie mit ihrer Tochter gemacht hat. Speziell, weil die Erkrankung, an der ihre  Tochter leidet, kaum jemand kennt und man die Symptome allzu leicht verharmlost. Maikes Tochter wurde sprachlos.


Wie unser Tochter ihre Sprache verlor. Elektiver Mutismus

Maike vom Blog Bücherhausen

Gerade erst hatten wir unsere Familie mit unserem zweiten Kind komplettiert, da bekamen wir aus der Kita eine erschreckende Nachricht. Seit der Geburt des kleinen Bruders hat die große Schwester dort sowohl das Sprechen als auch das Spielen eingestellt. Leider haben wir davon auch erst viele Wochen später erfahren. Nach diversen Arztbesuchen stand die Diagnose fest: Selektiver (oder auch elektiver) Mutismus.

Elektiver Mutismus ist eine Krankheit, die wohl den wenigsten Menschen bekannt ist. Es handelt sich um eine Kommunikationsstörung, die sich dadurch äußert, dass Kinder in gewissen Situationen gehemmt oder blockiert sind und somit trotz voll funktionstüchtiger Organe, nicht in der Lage sind zu sprechen. Oft verstummen sie nicht nur durch die Sprache, sie frieren auch in Gestik und Mimik ein und es ist ihnen kaum möglich Freude durch ein Lächeln zu zeigen. 
Ausgelöst wird diese Krankheit meistens durch Verlusterfahrungen im jungen Alter. Wichtige Bezugspersonen verschwinden aus ihrem Leben und hinterlassen eine große Unsicherheit. Die Kinder ziehen sich zurück und verschließen sich im schlimmsten Fall komplett. Oftmals wird dieses Verhalten als eine starke Schüchternheit oder Verstocktheit abgetan. Dies ist aber nicht der Fall. Denn das Kind ist nicht einfach nur schüchtern, weil es sich in einer ungewohnten Situation befindet. Nein, das Kind steht starke Ängste durch, weiß sich nicht anders zu helfen, als den Rückzug. Auch darf man auf keinen Fall auf den Gedanken kommen, das Kind tue das aus Boshaftigkeit, um den betroffenen Personenkreis zu ärgern oder zu bestrafen. Nein, ein mutistisches Kind wünscht sich sprechen zu können, kann aber diese innere Barriere nicht überwinden.
Meine Tochter schilderte mir öfter, ihre Stimme würde in ihrem Bauch sein und könnte dort nicht raus, solange ich nicht bei ihr bin. Bei anderen Malen sagte sie, sie hätte eine Glasscherbe im Mund, die so groß wie mein Brillenglas wäre, hochkant zwischen ihren Zähnen sitzen würde und sie somit hindere zu sprechen und auch beim Essen wäre sie hinderlich. Erst, wenn sie etwas trinkt, wird die Scherbe kleiner. Es ist schon erstaunlich, wie bildhaft ein Kind seine Ängste und Einschränkungen beschreiben kann.
Man muss in unserer Geschichte dann wohl noch ein bisschen zurückspülen. 2014 sind wir in unser neues Haus gezogen. Aus der Stadt raus. Da musste unsere Tochter natürlich auch die Kita wechseln. Das sahen wir aber positiv, da ihre erste Kita recht katastrophal war, häufige Erzieherwechsel und auch immer wieder neue Kinder, weil die Eltern mit den Gegebenheiten nicht zufrieden waren und sich nach anderen Möglichkeiten umgesehen haben. 
In der neuen Kita sollte dann alles besser werden. Aber weit gefehlt, die wirklich liebevolle Gruppenerzieherin wurde schon nach ein paar Wochen immer wieder krank und fiel dann ab April 2015 komplett für Monate aus. Es brach kein Chaos aus, aber die Kinder spürten, die Anspannung der Erzieher und die ständig neuen Gesichter der Springererzieher taten ein übriges.
Zu viel für unsere Tochter. Wie wir Monate später erfuhren, zog sie sich schon lange vor der Geburt des kleinen Bruders zurück. Redete nur das Nötigste mit den Erziehern und blieb ansonsten stumm. Mit der Geburt des Bruders soll sie dann komplett ihre Stimme verloren und noch dazu das Spielen mit den anderen Kindern eingestellt haben.
Eine schockierende Nachricht für uns Eltern, vor allem, weil wir erst Wochen und Monate danach von den Auffälligkeiten bei unserer Tochter erfahren haben. Zunächst haben wir noch gedacht, dass wir dieses Problem allein bewältigen könnten. Als die nächste U beim Kinderarzt dann anstand, konnte aber beispielsweise der Sprachtest nicht durchgeführt werden, weil auch hier unsere Tochter nicht gesprochen hat. Dabei kann sie viel und wirklich sehr gut sprechen. Nur eben mit fremden Menschen nicht.
Die Kinderärztin überwies uns dann an eine Kinderpsychologin. Mit dem gelben Schein in der Hand verließen wir die Arztpraxis. Allerdings stellte es sich als sehr schwierig heraus, überhaupt einen freien Therapieplatz zu bekommen. Nur über Vitamin B erfuhren wir von einer Psychologin in Kladow. Zunächst gingen wir dort ohne unsere Tochter hin, wollten wir ihr nicht noch ein neues Gesicht zumuten. Die Psychologin konnte uns schon viel helfen, denn wir waren einfach verunsichert, ob wir für unsere Tochter ständig das Sprachrohr spielen sollten, oder ob ihr dies den Druck nehmen würde, selbst wieder ihre Wünsche und Belange zu äußern. Da auch ein paar Wochen später keinerlei Besserung zu verzeichnen war, entschieden wir uns, unsere Tochter der Psychologin vorzustellen. Von der ersten Minute an, sprach sie mit ihr, als würde sie sie schon lange  kennen. Das kam für uns völlig unerwartet, hatten wir nicht schon damit gerechnet, dass sie auch zu diesem Termin verstummen würde.
Auf unseren Wunsch hin besuchte die Psychologin unsere Tochter dann in der Kita. Dort stellte sie leider fest, dass das Problem doch massiver ist, als zunächst vermutet. Die Psychologin sprach von einer Angstglocke, unter welcher sich unsere Tochter in der Kita befindet. Aus eigener Kraft wird sie sich davon nicht befreien können. Wir begannen also eine Therapie mit ihr und erste Fortschritte wurden nach ein paar Monaten bereits sichtbar. So begann sie zunächst im Flüsterton mit den Kindern zu sprechen, was ein großer Schritt war. Inzwischen ist sie so gefestigt, dass sie mit den Kindern wieder normal spricht. Allerdings war zunächst keinerlei Verbesserung in Bezug auf die Erzieher zu erkennen. Der schlechter Personalschlüssel in den Kitas ist wohl jedem ein Begriff. Für uns ist er besonders tragisch, denn um unserer Tochter helfen zu können, bedarf es mehr Zeit, die die Erzieher leider nicht haben.
Neben den Besuchen bei der Psychologin begannen wir eine Reittherapie, um das Selbstbewusstsein unserer Tochter weiter zu stärken. Außerdem ermutigten wir sie immer wieder, selbstständig aufzutreten, beispielsweise etwas einzukaufen oder nach einem Preis zu fragen, für ein Spielzeug, welches sie unbedingt haben wollte. Dabei mussten wir immer wieder sehr geduldig sein und wir wurden auch überrascht, wie geduldig einige Verkäufer doch waren. Da ich selbst Geisteswissenschaftlerin bin, näherten wir uns dem Thema Mutismus auch über einige Kinderbücher an. Besonders gefallen haben unserer Tochter „Der Junge in der Nussschale“ (hier weiterlesen) und „Es wird gut, kleine Maus“ (hier weiterlesen). Da wir auch nicht ausschließen konnten, dass der Tod des geliebten Opas ein weiterer Punkt ihrer Verlustängste war, habe ich auch einige Werke zu diesem Thema gesucht. „Der Tod auf dem Apfelbaum“ (hier weiterlesen) hat uns unter anderem sehr geholfen, uns mit diesem schweren Thema auseinander zu setzen.
Vor ein paar Monaten ist die ursprüngliche Erzieherin nach einem Krankheitsausfall von über einem Jahr, wieder an die Kita zurückgekehrt. Unsere Tochter brauchte nicht lange, um sich ihr zu öffnen. Und hin und wieder hatte sie auch wieder Momente, in denen sie ihre Sprache wiederfand. Für sie und uns ist das jedes Mal eine besondere Situation, denn es ist eben nicht selbstverständlich, dass ein Kind ausdrücken kann, was es sich wünscht oder gerade braucht.
Meine Schwester hatte dann einen Einfall, der, wie sich später herausstellte, Gold wert war. Sie schlug vor, dass die Erzieherin unsere Tochter einmal zu Hause besuchen könnte. So könnten wir sehen, ob sie außerhalb der Kita mit der Erzieherin spricht. Dies hatten wir mit den befreundeten Kindern schon festgestellt. So kam es, dass die Erzieherin uns besuchte und es war erstaunlich mitzuerleben, wie frei und entspannt und aufgeregt unsere Tochter ohne Ende auf die Erzieherin einredete. Ihr alles zeigte und alles erklärte. Jetzt konnten wir uns sicher sein, dass es sich um eine Angst handelte, die auf die Örtlichkeit beschränkt war und nicht auf den Personenkreis.

 

Seit diesem Treffen hat unsere Tochter große Fortschritte gemacht und sogar die schulärztliche Untersuchung mit Bravour bestanden, sodass einer Einschulung in diesem Jahr nichts mehr im Wege steht. Die Therapie konnten wir inzwischen auch beenden und aus unserer Tochter ist ein starkes Mädchen geworden. Bleibt abzuwarten, wie sie sich in der Schule entwickelt, aber wir glauben fest daran, dass alles gut gehen wird.