Die Autonomieentwicklung liegt mir wie auch eine sichere Bindung sehr am Herzen: Ich denke sie nicht als Weg zur absoluten Unabhängigkeit, sondern als spielerische und flexible Möglichkeit einen eigenen Weg zu entdecken und ihn variabel zu gehen. Dabei kann dieser Weg keiner sein, der nur Unabhängigkeit kennt. So eine Unabhängigkeit ist nicht frei, sondern pseudo- autonom. Die Bereiche Ernährung und Ausscheidung sind wichtige Gebiete der Autonomie. Es geht um den eigenen Körper und die Überschreitung dieser körperlichen Grenzen: von innen nach außen, von außen nach innen. Zum Töpfchentraining und zum Gewähren von Autonomie hatte ich hier schon geschrieben. Mir ist wichtig, deutlich zu machen, dass die Entwicklung der Autonomie parallel zur Bindung verläuft. Jessi hat hier über ihren persönlichen Weg berichtet.

Ich lese ab und an Artikel, wo der Eindruck entsteht, dass nur Bindung eine unterstützenswerte Entwicklung ist. Da werden Auseinandersetzungen als Bedrohung für die Bindung beschrieben und nicht als Reifeschritt der Autonomieentwicklung. Ich halte diese Sichtweise für durchaus problematisch. Es geht immer (!) und von Anfang an darum, beide Bedürfnisse im Blick zu haben: Bindung UND Autonomie!

Wenn Kinder unterschiedlichen Alters das Essen verweigern, weist das oft auf einen Konflikt zwischen Wünschen nach Autonomie und Bindung/ Abhängigkeit hin. Im Rahmen einer gesunden Autonomieentwicklung, die auch Abhängigkeit möglich macht, müssen Eltern sich erlauben, Kontrolle abzugeben und eigene Ohnmacht auszuhalten, ohne sich zurückzuziehen.

Ein Mädchen geht seinen Weg.

 Vorwort: Bindung und Autonomie sind gleichberechtigte Bedürfnisse

Menschen kommen mit unterschiedlichen Bedürfnissen auf die Welt. Wenn es um eine bedürfnisorientierte Erziehung geht, dann bedeutet das, dass alle Bedürfnisse eines Kindes erstmal sein dürfen. Bindung ist dabei nur eines von vielen. Unser Blog ist deswegen auch nicht bindungs- sondern bedürfnisorientiert!

Im ersten Jahr herrschen ganz klar Bindungsbedürfnisse vor, die aber von Anfang an von Bedürfnissen nach Autonomie mit geprägt sind. Mit der eigentlichen Autonomiephase werden die Bedürfnisse nach Freiheit, Eigensinn und Selbstwirksamkeit nochmal wesentlich wichtiger. Alleine! Das ist hier das Stichwort, dass das Kind oftmals vorgibt. Das heißt nicht, dass wir uns als Eltern zurückziehen und die noch im Entstehen begriffene psychische Grundstruktur sich selbst überlassen. Natürlich nicht! Das Kind ist eben noch nicht autonom, sondern bedarf eine Co- Reagulation, weil bestimmte psychische Strukturen noch nicht ausgebildet bzw. sehr instabil sind.

Zur Bindung gehört aber auch die Verinnerlichung der Beziehungserfahrung (womit die Angewiesenheit auf den realen Anderen nicht mehr vorrangig ist) und dadurch auch die Loslösung. Sonst ist es keine Bindung! Sonst ist es Abhängigkeit!

 

Die Autonomie eines Babys

Unabhängig davon, ob ein Baby die Brust oder die Flasche bekommt, ist es die wichtige Aufgabe der Eltern, sich auf die Kommunikation der kindlichen Bedürfnisse einzulassen. Ein Baby schmatzt, lutscht an der Hand oder Anderem und weint im schlimmsten Fall, wenn die vorherigen Hungersignale missachtet wurden. Es möchte in seinem Hungerbedürfnis gestillt werden und ist damit auf die Hilfe seiner Bezugspersonen angewiesen. Oftmals wird die Angewiesenheit und Abhängigkeit aber eines Babys hervorgehoben. Ich bedauere das sehr, denn es lenkt den Blick weg von den immensen Kompetenzen und den von uns unabhängigen (also durchaus autonomen) Fähigkeiten eines Kindes. Denn jedes Baby teilt sich aktiv mit und sagt: hey du, mein Bauch ist leer, ich habe Hunger.

Ein Baby kommuniziert und es imitiert sogar schon wenige Tage nach der Geburt die Mimik anderer. Das bedeutet, es ist in der Lage, etwas wahrzunehmen und nachzumachen. Das ist damit doch alles andere als nur hilflos. Die Herausforderung für uns Erwachsenen besteht darin, dass wir die Sprache unserer Kinder lernen. Es ist ein fataler Trugschluss, zu glauben, es wären nur unsere kleinen, lediglich von uns abhängigen Babys. Unsere Babys können sich von uns unabhängig, also im gewissen Sinne quasi autonom, mitteilen. Sie müssen das nicht lernen. Es bedarf auf der anderen Seite „nur“ eines verstehenden Menschen. Und dieses Verstehen ergibt sich im Laufe der Zeit auch. Dreht ein Baby seinen Kopf weg, dann würde ich annehmen, es möchte erstmal nicht weiter Essen. Vielleicht ist es satt, vielleicht erregt kurzzeitig zwischendrin etwas Anderes seine Aufmerksamkeit.

 

Wie viel Freiheit lasse ich dem Baby: erste feste Nahrung

Ob nun Baby- led- weaning (also selbstbestimmtes Fingerfood- Angebot) oder Brei: auch hier sind die autonomen Signale eines Kindes zu verstehen! Dreht es den Kopf weg, spuckt es Essen aus, dann ist das kein Ungehorsam oder Unfolgsamkeit, sondern dann möchte das Kind jetzt einfach nicht essen. Das sollte respektiert werden! Es drückt seine Bedürfnisse aus und zeigt, was es braucht oder was eben nicht. Es kann neben dem Fakt, dass es satt ist, natürlich mit der Ablehnung von Essen andere Missstände ausdrücken.

Ich würde nicht per se sagen, dass ein Baby, dass Fingerfood bekommt, autonomer is(s)t. Es kann gleichermaßen das Bedürfnis des Babys sein, sich füttern zu lassen. Wir sollten nur uns selber dabei gut im Blick haben: füttern wir, weil es dann schneller und kontrollierter is(s)t? Oder können wir dem Baby ein spielerisches Entdecken des Breis lassen? Ich beobachte ab und an, wie Eltern die Hände der Kinder vom Löffel fernzuhalten versuchen. Dazu gibt es keinen Grund (außer das Bedürfnis nach Sauberkeit), denn das Kind möchte aus eigenem Antrieb mitmachen.

 

Futterstörungen im Babyalter

Natürlich gibt es auch Störungen bezüglich des Essens bei Babys. Ich sage natürlich, weil ein Baby keinen großen Spielraum hat, um sein Missfallen oder seine Bedrückung oder seine Wut zu zeigen. Als Psychoanalytikerin messe ich, sozusagen naturgemäß, potentiell allem eine Bedeutung zu. Mir ist schon klar, dass viele das übertrieben finden, aber als Analytikerin bin ich es gewohnt, auch kleinen Dinge eine große Bedeutung beizumessen und genau wahrzunehmen, was bestimmte „Symptome“ ausdrücken könnten. Ich gehe, wie in der Psychoanalyse üblich, nicht davon aus, dass Symptome per se etwas Schlechtes sind, sondern dass sie uns eine Menge verraten.

Wenn wir also diese Symptome wie Fütterstörung, Schlafstörungen etc. als einen Hinweisgeber verstehen, dann können wir uns als Entdecker auf die Suche machen. Was drückt mein Baby eigentlich aus, wenn es nie von mir gefüttert werden möchte, die Oma aber das Gläschen reichen darf?

Es könnte sein, dass das Baby im wahrsten Sinne „pappsatt“ ist. Es hat vielleicht keine Lust mehr, von Mama/ Papa liebevoll gedrängt zu werden. Vielleicht ist ihm diese Nähe oder die Erwartungshaltung von Mama nichts und es möchte seinen Protest ausdrücken. Eine verhaltensnahe Lösung wäre dann, dass Oma immer füttert, aber das löst ja nicht die Ursache. Daher wäre es sinnvoll, zu verstehen, was das Baby eigentlich gerade stört. Was steht hinter diesem Symptom? Will es nicht von Mama gefüttert werden, weil sie ohnehin die ganze Zeit zusammen sind und es das Gefühl hat, keinen Freiraum zu bekommen? Ist es wütend, weil Mama es beim Füttern nicht ansieht, weil sie so traurig ist und so viel nachdenkt?

Diese Hypothesen sind konstruiert und es ist in jedem Familiengefüge individuell zu schauen, was ein Baby ausdrückt. Denn eines ist klar: es drückt etwas aus.

 

Das Essen beim trotzenden Kleinkind

Wir kommen nun zu einem Lebensabschnitt, der voll im  Zeichen der wunderbaren Trotzigkeit und Durchsetzung eigener Bedürfnisse steht. Eine großartige, lebendige Phase… die Eltern manchmal verzweifeln lässt. Ich nutze mit vollster Absicht den Ausdruck Trotz, denn er drückt für mich dieses Lebensgefühl aus: ich will das so, wie ich will! Da steckt eine so wunderbare Kraft drin, die mit dem abstrakten Begriff Autonomie meiner Meinung gar nicht zu fassen ist. Ich sehe Trotz keinesfalls als etwas Negatives, sondern als wichtigen Wunsch nach Selbstbehauptung und Eigensinn.

Im Folgenden spanne ich einen Bogen auf, der die wichtigen Autonomiephasen- Themen der Kontrolle, der Hingabe, der Unterwerfung, der Anpassung und der Kraft aufgreift.

Kämpfe in der Autonomiephase

In dieser Phase gibt es nun aber besonders häufig Kämpfe zwischen Eltern und Kind. Ich glaube, dass diese Kämpfe notwendig sind! In der Autonomiephase entwickelt sich immer mehr und mehr das von anderen getrennte Selbst.

Ich bin ich und ich WILL!

Es geht dabei auch um ein lustvolles Ausleben von Macht UND es geht auch darum, dass Anpassung möglich wird. Dabei ist Anpassung keine Selbstaufgabe und Unterwerfung. Genau das ist aber der Knackpunkt:

beides muss möglich sein und beides muss auch erlebt werden dürfen!

Bleibt diese „ich will“- Haltung aber ein Leben lang vollkommen unflexibel bestehen, spricht man von einer Fixierung, die höchst anfällig für psychische Störungen (z.B. Sucht) oder Lebensschwierigkeiten (wie z.B. nicht lange eine Arbeitsstelle halten oder das Studium nicht abschließen zu können) macht.

 

Zwischen Hingabe und Kontrolle

Sich jemandem hinzugeben, ist etwas Wunderbares. Jemandem zu vertrauen, dass er jetzt mal das Ruder übernimmt, kann so schön sein. Genauso schön ist es, selber auch mal das Ruder zu übernehmen und zu sagen, wo es lang geht. Kinder müssen in einer geschützten Beziehung all diese Facetten erproben dürfen. Wir ermöglichen ihnen so einen flexiblen Umgang, der sie psychisch widerstandsfähig (resilient) macht. Ein Kind, dem in allen Wünschen und Bedürfnissen permanent entsprochen wird, hat es genauso schwer wie ein Kind, dem andauernd alles vorgegeben und über das nur andere verfügen. Solche Extreme schaden!

Unser Kind lernt in dieser sehr wichtigen Lebensphase etwas Wichtiges. Nämlich, dass Bedürfnisse angehört und wahrgenommen werden, auch wenn ihnen nicht immer (voll) entsprochen werden kann. So ist das Leben einfach. Nicht allen unseren Bedürfnissen wird im Leben entsprochen. Babys/ Kinder können aber gerade in einer sicheren und verständnisvollen Beziehung zu ihren Eltern etwas angstfreier erleben, dass sie auch ein Streit über unterschiedliche Bedürfnisse nicht auseinanderbringen wird. Wir müssen eingehbare Kompromisse schließen und unser Kind in seinen Bedürfnissen genauso wahrnehmen wie wir uns selber.

 

Der Streit ums Essen und Grenzbegehungen

Beim Essen geht es nun darum, dass ein Kind selber erkundet, was ihm schmeckt. Oftmals erzählen Eltern, dass ihr Kind nicht bereit ist, mehr als trockene Nudeln oder Süßes oder was auch immer zu essen. Dazu gibt es eine Reihe biologischer Erklärungsversuche. Auch beim Gewünschtesten Wunschkind findet ihr hier schöne Erklärungen.

Nun möchte ich das Ganze aber von der psychodynamischen Seite betrachten:

In der Autonomiephase entdeckt das Kind sich als Beeinflusser, als wichtig und als groß- und einzigartig. Es hat Macht/ Einfluss und die will es zeigen und auch erproben. Das gehört zu dieser Entwicklungsphase dazu! Das Kind kann sich, da die Fähigkeiten zum Einnehmen eines anderen Standpunkts noch nicht vorhanden sind, nicht vorstellen, dass andere Menschen andere Bedürfnisse und Vorstellungen haben. Es liegt also in der Natur der Sache, dass dieses Kind in der Autonomiephase permanent an Grenzen stößt. An die eigenen und an die der Anderen. Im besten Fall kann es spielerisch diese Grenzen erkunden und sowohl sich selbst als auch das Gegenüber spüren. Das geht, wenn das erwachsene Gegenüber auch flexibel ist und sich nicht bedroht fühlt durch die Unkontrollierbarkeit der Situation und des Kindes.

Kontrollverlust aushalten, ohne die Kontrolle zu verlieren

Als Eltern von Kindern in der Autonomiephase müssen wir aushalten, dass wir unsere Kinder nicht kontrollieren können. Das ist leider der Punkt, der oftmals zu psychischen Störungen führt. Die Magersucht ist eine davon. Eltern Magersüchtiger (ohne dass im Hintergrund eine Persönlichkeitsstörung vorliegt) sind oftmals Menschen mit einem großen Kontrollbedürfnis, so dass die kindlichen Wünsche nach der eigenen Autonomie unbeantwortet bleiben.

Wenn davon gesprochen wird, dass Kinder Grenzen brauchen, dann bedeutet das genau das: Kinder wollen sich spüren und auch den anderen spüren können. Siehst du, was ich hier mache? Wie findest du das denn? Kann ich meine grünen Spinathände an der Wand abwischen? Oha, cool, da fuchtelt Mama ja los wie eine Wilde.

Grenzen zu begehen und sie zu übertreten macht doch auch Spaß. Wenn niemand darauf reagiert, wird einem Kind etwas vorenthalten, weil nicht klar ist, wo überhaupt Grenzen sind. Ein Kind verkraftet ein Nein und es ist die Aufgabe des Erwachsenen zu wissen (oder es in Erfahrung zu bringen), ob das Kind dieses Nein befolgen kann oder nicht. Wenn ein Kind noch nicht oder durch eine große emotionale Erregung zumindest zeitweise nicht dazu in der Lage ist, bestimmte Impulse zu unterdrücken, dann liegt es an mir als Erwachsenem, einen klaren Kopf zu bewahren und die Situation angemessen zu begleiten.

Beobachten und verstehen

Das alles gilt natürlich auch für das Essen! Ich muss mein Kind weder verführen, noch überreden, noch manipulieren. Wenn ein Kind mir durch die Weigerung, etwas zu essen etwas sagen will, dann muss ich versuchen, das zu verstehen. Ich muss mein Kind in seinem Wunsch nach Autonomie verstehen. Und zwar möglichst ohne Druck. Ich kann mich erstmal zurücklehnen und beobachten, was mein Kind tut, in welcher Stimmung es ist, in welcher Stimmung ich bin, wie wir miteinander umgehen, was beim Essen anders ist oder ob sich da etwas fortsetzt. Ich kann es als ein Puzzle mit vielen, vielen Teilen begreifen. Zwei Puzzleteile muss ich dabei immer mitdenken: die Bedürfnisse nach Bindung und die nach Autonomie!

Auch wenn einem solche Bedürfnisse Angst machen können, ist es doch auch eine Einladung an uns als Eltern, uns selber dieser Bedürfnisse in uns bewusst zu werden.

Eure Madame FREUDig

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Zwischen Autonomie und Bindung. Gleichberechtigte Bedürfnisse | Terrorpüppi Reflektiert bedürfnisorientiert gleichberechtigt