Wer kennt sie nicht, diese Momente, in denen Diskussionspartner*innen nicht auf dein Gesagtes selbst eingehen, sondern stattdessen deine Argumente zu relativieren versuchen. Oder auch gänzlich abbügeln: Du oder die anderen sind ja noch viel schlimmer… Aber diese oder jenen sind noch viel schlimmer betroffen… Haben wir denn keine größeren Probleme, wie.. Aber was ist mit… Whataboutism.

Im Internet, allen voran in den  Kommentarspalten, passiert das manchmal ganz schön plump. Sehr oft aber auch in einer Weise, in der eine echte Diskussion zwar ebenso abgebrochen wird, aber als Scheindiskussion fortgeführt werden kann. Dann etwa, wenn nur noch diejenigen zu Wort kommen (dürfen), die nicht Widerwort geben, sondern einstimmen wollen in eine bisweilen lautstark zelebrierte Selbstbeweihräucherung. Das beobachte ich auch immer wieder auf Elternblogs (meist auf Facebook, aber nunja…), aber auch so im realen Leben unter Eltern.

 

Whataboutism – Wat für ein -ism?

Beim Whataboutism handelt es sich um eine sehr spezielle Argumentationstechnik. Es handelt sich um eine relativierende Kommunikationsform, die obendrein von einem Fehlen an Reflexionsbereitschaft gekennzeichnet ist.

Wer also Whataboutism betreibt, der oder die ist nicht bereit, die eigenen Argumente und schon gar nicht das eigene Handeln zumindest zu überdenken (von einem Ändern will ich gar nicht mal reden). Stattdessen wird die Kritik umgelenkt und entwertet. Auf Vorwürfe wird dann, und seien sie noch so unpersönlich formuliert, nur mit Gegenvorwürfen reagiert, einzig um eine Diskussion zu unterdrücken, das Thema zu wechseln, von eigenen Fehlern oder wunden Punkten abzulenken.

 

Die typischen „Anwendungsfelder“ von Whataboutism

Whataboutism wird besonders erfolgreich in Diskussionen um Rassismus und Sexismus angewendet. Unter so ziemlich jedem Zeitungsartikel, der auch nur entfernt was mit Frauen oder/ und Menschen mit Migrationshintergrund zu tun hat, wird in den Kommentarspalten Whataboutism betrieben.

Doch wer meint, sie oder er müssten ja nur die Kommentarspalten der großen Zeitungen meiden, die oder der irrt gewaltig. Whataboutism begegnet mir zum Beispiel auch recht häufig, wenn ich mich durch Diskussionen auf Elternseiten und Elternblogs bewege.

Je nach Seite und Blog kann es sich um ziemlich offenkundigen (plumpen) Whataboutism handeln. Mitunter ist er aber durchaus gut dekoriert und versteckt.

 

Whataboutism unter Eltern

Nun sind wir Eltern Tag für Tag mit unzähligen gesellschaftlichen Erwartungen darum konfrontiert, was gute, ja richtige Elternschaft so ausmacht. Das berührt unsere ganz grundsätzliche Haltungen, aber auch all die kleinen Handlungen im Alltag. Niemand kann „perfekt“ sein – und ich bin sie sicher auch nicht, so eine perfekte Mutter. Und doch: Wir alle wollen es schon sehr gut machen, jeder und jede auf ihre und seine Weise.

„Unglücklicherweise“ machen das andere Eltern aber schrecklich oft ganz anders als wir selbst und dann präsentieren die das auch noch so „laut“, so „sichtbar“ und „irgendwie nervig“ – und finden das auch noch gut und wichtig!

Dabei sind die doch selbst nicht viel besser – Ganz im Gegenteil, ach viel schlimmer sogar! Die lieben ihre Kinder gar nicht richtig, sonst würden sie ja… Na zumindest tun sie ihren Kindern keinen Gefallen mit ihrem Verhalten… Und dann wären da ja auch noch solche Eltern, die… Whataboutism.

Themenwechsel. Gegenvorwürfe. Destruktive statt verbindender, an echtem Austausch interessierter  Kommunikationskultur… Und das sind eben nicht nur immer die anderen. Das sind auch wir. Manchmal auch ich. Klar, nicht immer können und wollen wir alles mit jedem diskutieren. Mit so manch Zeitgenossen kann man auch einfach nicht auf Augenhöhe diskutieren. Da fühlen sich womöglich beide Seiten nur getriggert. Sehen nur Angriffe, nur Vorwürfe.

 

Wenn Reflexion auf der Strecke bleibt

Das ist menschlich und in nicht einmal wenigen zwischenmenschlichen Begegnungen ist ein Vermeiden von Diskussion auch der gesündere Weg. Doch, was wenn man jeglicher Kritik ausweicht? Ja, sogar schon automatisiert zum Gegenangriff ausholt? Was, wenn man nur noch für bestätigende, aber nicht mehr für irritierende Kommunikationsofferten empfänglich ist?

Dann bleibt Reflexion auf der Strecke und wo nicht reflektiert wird, da findet auch kein Horizont erweiterndes Lernen mehr statt. Individuell schon schlimm genug, als Gesellschaftsphänomen aber mehr als nur ein bisschen problematisch…

Da können zum Beispiel Blogtexte noch so schön geschrieben sein, wenn sie keine Kommunikation zulassen, wenn abweichende Meinungen anschließend reflexartig abgewürgt werden – sei es von den Blogger*innen oder von den Leser*innen (oder beiden), dann fehlt echter Austausch und damit die Möglichkeit, sich selbst substanziell weiterzuentwickeln. Das Baden im eigenen Saft befördert bisweilen Steigerungseffekte, die aus uns eben nicht diese besseren Eltern werden und sein lassen. Stattdessen häufig: Radikalisierung der eigenen Ansichten.

 

Niemand kann alles reflektieren – aber nicht zu reflektieren ist auch keine Lösung

Nun könnte man einwenden, dass manche einfach nur keinen Bock auf Diskussionen haben, aber sehr wohl trotzdem in der Lage sind, ihren Standpunkt zu überdenken und gegebenenfalls auch verlassen.

Doch wie genau soll das geschehen, wenn schon die Bereitschaft fehlt, anderen Argumenten überhaupt Gehör zu schenken?

Reflektieren kann ganz schön anstrengend sein. Bisweilen schmerzhaft. Sich vor sich selbst eingestehen zu müssen, dass man „falsch“ lag und dass eigene Handlungen vielleicht nicht so optimal waren, ist harte Arbeit und löst nicht selten Schuldgefühle aus.

Wir wollen schließlich alle nur das Beste für unsere Kinder und wenn wir dann merken, dass wir selbst nicht dieses Beste gegeben haben, dann tut das weh.

Kein Mensch ist frei von Schuld oder frei von Fehlern. Jeder Mensch kann entsprechend problemlos Whataboutism als Strategie anwenden oder durch diesen ausgebremst werden. Irgendwas findet sich wirklich immer.

 

Wenn Elternschaft auf der Stelle tritt und die Fronten sich verhärten

Wenn ich mir so manch Whataboutismen anschaue, dann erkenne ich oft durchaus die guten Absichten, welche die Personen vertreten. Aber die Taktik des „Friss oder stirb“ erscheint mir wenig erfolgsversprechend, so langfristig. Da wird auf „abweichende“ Eltern teilweise richtig eingedroschen. Überzeugung geht sicher anders.

In den Austausch zu gehen; sich den Argumenten des Gegenüber zu stellen, ihnen wirklich zuzuhören und dann auch auf sie einzugehen, das kann unglaublich bereichernd sein. Und anstrengend, klar!

Doch wenn wir wirklich einen gefestigten Standpunkt haben, dann kann der doch unmöglich einfach so zum Wackeln gebracht werden.

Und wenn doch? Was wenn es doch Argumente gibt, die mich zum Zweifeln bringen? Dann ist dieses Gespräch auf Augenhöhe noch bereichernder als erwartet. Dann war dein Standpunkt ein Stück deines Weges, den du sowieso stets weiter voranschreiten solltest. Vielleicht gelangst du über diesen Umweg des Zweifelns aber auch noch gefestigter zurück und schöpfst aus deinem Diskussionsprozess (und sei er allein in deinem Kopf passiert) noch mehr Kraft.

Und wenn dein Standpunkt bleibt? Wenn sich scheinbar gar nichts geändert hat? Vielleicht hast du dann aber den Standpunkt eines anderen Menschen verändert. Womöglich nur erste Zweifel gesät. Wenn nicht einmal das, dann kennst du ihre oder seine Welt besser – und umgekehrt genauso. Wir mögen nicht alles ändern können, schon gar nicht immer sofort. Die anderen zu verstehen (nicht unbedingt gutheißen!) ist aber immer der Anfang.

 

Für eine geborgene Kindheit und für eine bessere Gesellschaft

Wer die Welt verändern will, wer die Gesellschaft zu einem besseren Ort verwandeln möchte, der oder die darf sich nicht verschließen, darf sich nicht zurückziehen. (Hier habe ich auch schon zur Attachment Parenting-Falle geschrieben…).

So sehe ich das und ich finde das wahnsinnig schwer in meinem Alltag umzusetzen. Mein Ding einfach durchzuziehen, ist viel einfacher, wenn ich mich nicht auch noch mit diesen anderen auseinandersetzen muss, die es ganz  oder zumindest teilweise anders machen. Kommunikation auf Augenhöhe statt Whataboutism. Auch wenn es oft gerade dann schwer fällt, wenn man sich selbst angegriffen fühlt.

Doch wenn ich, wenn du, wenn wir wollen, dass Kinder unbeschwert, geachtet und geliebt aufwachsen – und nicht nur unsere eigenen – dann müssen wir immer wieder auch uns selbst hinterfragen. Kinder, die eine geborgene Kindheit erfahren haben, in der ihre Bedürfnisse gesehen wurden und mit denen in Beziehung gelebt wurde, diese Kinder machen unsere Welt zu einem besseren Ort. Wir brauchen mehr solche Kinder.

 

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Die Bereitschaft sich immer wieder auch selbst kritisch zu hinterfragen, ist essentiell für eine gute Elternschaft | Terrorpüppi | Reflektiert, bedürfnisorientiert, gleichberechtigt