Immer wieder lese ich in verhaltensnahen Fachbüchern, aber auch in renommierten Elternblogs und in Elternforen den Rat, kindliches Fehlverhalten einfach zu ignorieren. Dem liegt die verhaltenstherapeutische Methode der Löschung zu Grunde: unerwünschtes Verhalten tritt seltener auf, wenn es keine Reaktionen darauf gibt. Stimmt tatsächlich! Dazu gibt es hinreichend viele Studien. Warum ich das trotzdem nicht befürworte, sowohl in der Eltern- Kind- als auch der therapeutischen Beziehung, möchte ich etwas genauer ausführen. Zum Ignorieren auf Grund innerer eigener Befangenheit (Depression etc.), aber auch zum bewussten Schreienlassen hatte ich hier schon einmal einen Artikel verfasst. Heute vertiefe ich den Aspekt, dass Ignorieren bewusst eingesetzt wird, um Kinder dazu zu bringen, bestimmtes Verhalten nicht mehr zu zeigen.

Wenn wir nämlich dieses manchmal wirklich störende und nervende Fehlverhalten ignorieren, dann, so vermute ich, steckt dahinter die Hilflosigkeit des nicht- Verstehens. Eine Handlung ist bei (kleinen) Kindern (oder auch besonders bei strukturellen Störungen) eine Ausdrucksmöglichkeit. Statt sich verbal mitzuteilen und von den eigenen Gefühlen zu reden, werden sie ausagiert. Das geschieht, weil es innerlich noch keinen festen Raum gibt, in dem die starken Gefühle selbst gehalten werden können. Bei Menschen mit strukturellen Störungen bleibt diese Impulsivität bestehen, weil innerlich der Raum zum imaginierten „Probe- Handeln“ fehlt.

Junge läuft alleine weg, die Eltern schauen ihm nach.

Ablenkung hilft! Aber wem?

Neulich las ich von einer besorgten Mutter, die das Nägelkauen ihres Kindes gerne unterbinden würde. Die ersten Kommentatoren schlugen alle vor, das Verhalten nicht zu verstärken, indem man darauf eingeht. Am besten würde das Nägelkauen ignoriert und das Kind abgelenkt.

Wenn ich so etwas lese, bin ich oft ratlos. Offensichtlich sind das nämlich eigentlich Eltern, denen an sich die Beziehung zu ihren Kindern enorm wichtig ist und die sich in einem bindungsorientierten Forum miteinander austauschen. Natürlich ist es nachvollziehbar, dass Eltern solches Verhalten gerne beenden möchten. Ich halte es insofern für ungünstig, als das etwas Unverstandenes und vor allem Unbeantwortetes einfach ausgeschaltet werden soll.

Wenn ein Kind z.B. sich die Nägel regelmäßig abkaut, vielleicht sogar schmerzhaft tief einbeißt, dann halte ich die Frage nach dem Warum für die eigentlich Notwendige. Ich kann mir gut vorstellen, dass diese Frage unbewusst bei den Eltern auch anklopft, aber eben erschreckt. Warum muss mein Kind sich selbst verletzen? Bin ich eine schlechte Mutter / ein schlechter Vater? Wahrscheinlich machen diese Fragen derartig Angst und erschüttern die (unsichere) Selbstsicht, dass diese Gedanken hinter dem Wunsch nach Handlung und Beendigung des Verhaltens überwiegen. Jedes Verhalten hat eine Bedeutung und eine Botschaft. Vielleicht auch gar einen erschütternden Vorwurf.

Ich glaube, dass viele Eltern auf diesen unausgesprochenen, aber ausagierten Vorwurf mit „was soll ich denn noch tun? Ich gebe doch schon alles“ reagieren. Dabei geht es nicht darum, was wir als Eltern tun, sondern darum, ob wir verstehen. Ich finde es bedrückend, wie häufig die Frage „was soll ich jetzt tun?“ auftaucht und wie die Frage  „wie würdet ihr denn gerade das Verhalten meines Kindes verstehen? was möchte es mir mitteilen, wenn es sich blutig kratzt, wenn es mich oder andere schlägt, wenn es mit dem Kopf gegen die Wand haut, wenn es andere beißt?“ zurück steht.

Aus Verstehen ergibt sich automatisch eine Handlungsidee

Wenn ich meine zu verstehen, was jemanden anderen umtreibt, dann kann ich versuchen, dementsprechend zu reagieren. Wenn ich aber mit einem Verhalten umgehe, ohne dass ich mir über den kommunikativen Aspekt des Symptoms Gedanken mache, dann geht etwas Wesentliches in der Beziehung verloren.

Insbesondere autoaggressives Verhalten bei Kleinkindern soll bestenfalls ignoriert werden, so der häufige Rat. Dass dieses Verhalten aber aufschlussreich ist und uns hilft, den psychischen Zustand eines Kindes einzuschätzen, wird vergessen. Es gibt keine pauschale Antwort darauf, warum ein Kind zu diesen Mitteln greift. Einfache, standardisierte Antworten (das ist das Temperament, das ist bei Scheidungskindern eben so,  das machen alle mal durch) sind zwar erleichternd, aber auch fatal. Wenn alle mal den Kopf gegen die Wand hauen, dann ist ja alles ok?

Stellen wir uns aber mal vor, was in dem Moment in dem Kind vor sich geht. Es könnte verzweifelt sein und von unterschiedlichsten Gefühlen überflutet werden. Es könnte sich nichts sehnlicher wünschen, als dass jemand seine Not sieht. Davon ist erstmal auszugehen, denn (auto-) aggressives Verhalten ist meist Ausdruck einer  wie auch immer gearteten Unfähigkeit, sich in seinem Dilemma mitzuteilen und um Hilfe zu bitten.

 

Wahrnehmen und Halt bieten bei allen Gefühlen

Solches kindliches Fehlverhalten könnte man als Spitze des Eisbergs verstehen und eben nicht als das eigentliche Problem. Es ist lediglich ein Hinweisgeber auf tiefer liegende Befindlichkeiten. Jedes Gefühl kann mit jedem Gefühl abgewehrt werden. Statt traurig oder ängstlich zu sein, kann man wütend werden. Wut ist ein ausgesprochen gutes Gefühl, weil es einen aktiv werden lässt und weniger hilflos fühlen lässt. Wut hält Gefühle von Ohnmacht von uns fern.

Andererseits kann Wut auch auf eine unzureichend ausgeprägte Impulskontrolle und Frustrationstoleranz hinweisen (hier ein Text dazu). Gerade bei Kleinkindern ist diese psychische Funktion nicht stabil ausgereift und muss daher von den Erwachsenen teilweise übernommen werden.

 

Was, wenn wir die Ansprache durch Handlung von unseren Kindern ignorieren?

Gehen wir mal davon aus, dass unsere Kinder in ihrer Handlung unbewusst etwas ausdrücken und wir uns davon abwenden oder sie mit einem Buch oder Puzzle abzulenken versuchen, ohne (!!!) dass wir uns im Nachhinein über das Warum Gedanken machen. Wir haben dann auf eine Ansprache in der Not nicht reagiert. Wir haben uns aus Sicht der Kinder desinteressiert an ihrem emotionalen Zustand gezeigt. Die Folge davon ist, dass die Kinder sie überfordernde Emotionen mit sich selbst ausmachen werden und dafür manchmal auch pathologische Wege wie autodestruktives Verhalten nutzen werden. Es wird sicher auch fitte Kinder geben, die daraus Kraft schöpfen und eine besondere Innensicht und Selbstbegleitung aufbauen.

Wahrscheinlich werden diese Kinder aber nicht das Vertrauen aufbauen, dass sie sich mit ihren unangenehmen Gefühlen anderen zumuten dürfen. Somit wird das Ignorieren zur Quelle von Scham und Schuldgefühlen!

Handlungsdialoge übersetzen statt sie zu ignorieren!

Ich möchte euch so gerne ermuntern, aus diesen Handlungsdialogen auszusteigen. Statt einfach mitzuagieren und sich zu vorschnellen Handlungen verleiten zu lassen (und dazu zählt das Ignorieren eben auch), könnte ein angemessenes Innehalten helfen, die Situation zu verstehen. Natürlich gibt es eine Vielzahl an Situationen, die das schwer macht, weil sie uns scheinbar ein schnelles Handeln abverlangen. Das ist auch nicht weiter wild. Man kann auch einem Kind von zwei, drei Jahren mitteilen, wie man eine Situation gerade versteht. Ob es denn sein könne, dass… Es geht nicht darum, dass wir sofort wissen, was da passiert. Wir können uns dieses Verstehen erarbeiten und anhand der Reaktionen unseres Kindes unsere Hypothesen bestätigen oder verwerfen. Jede Beziehung und jedes Verstehen ist ein Prozess, der NIE abgeschlossen ist.

Wir vermitteln unseren Kindern mit solch einer Haltung, dass wir erstens nicht allwissend sind und dass man sich selber immer zu seinen Motiven befragen kann. Wir unterstützen damit den Aufbau eines gesunden, inneren Dialogs. Denn wenn wir mit unserem Kind in einen verbalen Dialog treten, helfen wir ihm, seine Beweggründe zu ergründen. Diese Art des mit sich Umgehens wird seine wunderbaren Spuren hinterlassen. Auf diesem Prinzip basiert eben auch die psychoanalytische Arbeit, die, wie eben inzwischen auch Studien belegen, tiefgreifendere Veränderungen ermöglicht. Durch das gemeinsame, aufrichtige Interesse an den Motiven und das gemeinsame Durchleben von Emotionen kann sich die Persönlichkeitsstruktur stabilisieren.

 

Nachwort

Nach fast allen Texten erreichen mich besorgte Zuschriften der Art, ob es ok sei, wenn man nicht immer nach dem ideal beschriebenen „Muster“ reagieren würde. Ich seufze innerlich, weil ich es so schade finde, wie vermeintlich hilfreiche Texte, die Verstehen fördern sollen, dazu beitragen, dass manche das zu inneren Zwängen aufbauen. Seid milde mit euch! Wir alle geben unseren Kindern ihre Päckchen mit. Das ist ok! Meine Texte sollen euch einladen, mal ein Stück zurückzutreten und euch zu beobachten. Sie sind eine Einladung und keine unumstößliche oder gar absolute Wahrheit!

 

Eure Madame FREUDig

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