Mir fällt vermehrt auf, dass Kinder bisweilen in einer Form als ausschließlich gut idealisiert werden, von der ich glaube, dass sie ihnen in ihrem Sein schadet. Wenn alles positiv gedeutet wird, was sie sagen 0der tun, dann fehlt einfach ein wesentlicher Teil zur Ganzheit. Wenn ein Kind sich blöd verhält, dann kann man das als unangemessenes Verhalten auch so benennen und damit diesen Teil der Persönlichkeit auch anerkennen. Der Grund und die Beweggründe kann man unabhängig davon zu verstehen versuchen. Spucke ich z.B. jemanden an, weil er mich beleidigt hat, dann ist das zwar vielleicht nachvollziehbar, aber deswegen trotzdem noch lange nicht ok. Ich verstehe, dass viele Eltern mit Skepsis reagieren, wenn von Tyrannen- Kindern die Sprache ist. Niemand will ein Tyrannenkind. Die Assoziationen gehen unweigerlich in eine unschöne Richtung… Aber vielleicht lohnt es sich, darüber nachzudenken, dass womöglich in jedem Menschen beide Teile schlummern. Nur weil wir nicht auf eine bestimmte Art und Weise sein wollen, heißt das nicht, dass wir es nicht trotzdem auch sind. Genauso könnte es sein, dass unser Kind sich bisweilen recht tyrannisch benimmt und um jeden Preis seinen Willen durchsetzen will. Jeder Mensch (also auch jedes Kind) hat das Potential zum Tyrannen UND gleichermaßen auch zum Engel. Dazwischen liegt ohnehin sehr viel. Wir engen den Raum ein, wenn wir uns und unseren Kindern nur gestatten, immer gut zu sein und sich so zu verhalten.

 

ein kleiner Engel

Sind Kinder immer gut?

Grundsätzlich ist das natürlich mit ja zu beantworten, aber es ist nur die halbe Wahrheit. Wir alle sind gut, aber eben nicht nur. Wenn wir aber nur einen Teil sehen, sehen wir dann unser Gegenüber eigentlich wirklich?

Jeder Mensch hat verschiedene Anteile, über die man sich bestenfalls auch bewusst wird. Allerdings liegt genau darin das Problem. Es gibt Anteile, die wir an uns nicht mögen und die an uns nicht gemocht wurden bzw. von denen wir annehmen, dass wir mit diesen Anteilen nicht gemocht werden können. Neid, Eifersucht, Gier, Wut, Zorn und Missgunst sind nur einige Gefühle, die viele Menschen nicht empfinden wollen. Sie schämen sich dafür oder haben Schuldgefühle, wenn sie diese Gefühle in sich leise wahrnehmen. Manch einer leidet sehr darunter, dass er* sie immer wieder mit diesen Gefühlen konfrontiert wird, obwohl er* sie doch eigentlich so ein „netter“ Mensch ist.

Klaviatur der Gefühle in Reinform

Bei Kindern kann man diese Gefühle wunderschön in Reinform beobachten. „Ich will auch dieses Pailletten- Shirt“. (Kriegt erstmal keins) „Dein Tshirt sieht total doof aus.“ Neid und Missgunst in Reinform. Viele Eltern kaufen dann das Tshirt einfach. Ich vermute, die Konfrontation mit diesen neidischen und missgünstigen Gefühlen bei ihren Kindern ist dann einfach unaushaltbar. Eigene innere Verbote, sich mit allen Gefühlen wahrzunehmen, behindern diese Gefühle im Gegenüber wertfrei zu sehen. „Oha, da warst du jetzt aber neidisch und hältst es gar nicht aus, dass jemand Anderes was Schönes hat, was du nicht hast.“  Diese Wahrnehmung darf sein. Ob man das seinem Kind so sagen muss, sei erstmal dahingestellt. Aber warum sollte man ab einer gewissen Reife eines Kindes nicht auch differenziert ansprechen, was man wahrnimmt? Diese Wahrnehmungen helfen einem Kind, sich selbst vielfältig wahrzunehmen und sich geliebt zu fühlen. Wenn nämlich jedes Verhalten, sei es auch noch so unpassend, als „gutes Verhalten“ umgedeutet wird, dann fühlt sich doch niemand ernsthaft gesehen.

Es ist wirklich bedauerlich, wenn jemand wütend (oder welches sogenannte negative Gefühl auch immer) ist und diese Wut einfach nicht ankommt. Es macht ein Kind erst recht wütend, wenn Eltern nicht merken, dass es versucht, ihnen zu zeigen, wie frustriert oder wütend es eigentlich ist. Vor Jahren sagte ein Patient mal in etwa zu mir: „Ich konnte machen, was ich wollte. Meine Eltern haben mich immer nur rausgeboxt, aber haben nie etwas dazu gesagt. Ich hätte so gerne irgendwas von ihnen gespürt“.

Es ist ok, nicht nur gut zu sein!

Wenn wir uns und auch unseren Kindern gestatten, anders als gut zu sein, können sie und wir vielleicht einfach wir selbst sein. Auch wenn es manchmal unangenehm ist. Dazu könnten wir aufhören, alles immer positiv umdeuten zu müssen. Manchmal sind wir und unsere Kinder gehässig, fies oder sonstwas. Aber wie sollen unsere Kinder sich selbst real wahrnehmen, wenn sie immer denken, dass alles ok ist, was sie tun und sagen?

Durch eine authentische Reaktion spürt das Kind sich doch erst in seiner Wirksamkeit. Ich glaube (hoffe), dass viele Menschen das meinen, wenn sie von „Kinder brauchen Grenzen“ sprechen.

Reizphrase „Grenzen setzen“

Von vielen Seiten wird dieses „Grenzen setzen“ aber als Indiz für eine lieblose ERziehung verstanden. Gerade, wenn Eltern sich sehr bemühen, bedürfnis- und bindungsorientiert mit ihrem Kind umzugehen, gerät manchmal aus dem Blick, dass es eine natürliche Gegebenheit ist, Grenzen zu haben. Jeder von uns wird bestenfalls nämlich in sich selbst durch eine Grenze gehalten. Durch verinnerlichte Normen und den Wunsch, die wichtigen Beziehungen nicht nachhaltig zu schädigen oder gar zu zerstören, kann im Vorfeld eine eigene Grenze gesetzt oder eine fremde Grenze antizipiert werden. Grenzenlosigkeit und die Angst davor schlägt sich in vielen psychopathologischen Symptombildern nieder (Substanzmissbrauch, Essstörungen etc.).

Nicht allen Impulsen nachzugehen, ist bisweilen schwierig, aber für eine gutes Zusammenleben eben auch unabdingbar. Ich habe hier über die Wichtigkeiten des Neins gerade durch die geliebten und liebenden Mitmenschen geschrieben. Dabei geht es nämlich darum, dass man sich in Liebe abgrenzen kann.

Grenzen zu setzen heißt nicht, dass man sein Kind anbrüllt und darauf pocht, dass es gehorcht. Grenzen zu setzen bedeutet, dass wir als Erwachsene klar artikulieren, wo unsere Grenzen sind. Was wir wollen und was nicht. Das wird natürlich nicht immer befolgt. Das zu bestrafen, halte ich nicht für sinnvoll, es zu thematisieren und für mich persönlich daraus Konsequenzen zu ziehen schon.

Grenzüberschreitungen haben Bedeutungen vielfältigster Art. Kinder, die immer wieder Grenzen anderer überschreiten, werden als oftmals als Tyrannen bezeichnet. Solche Kinder gibt es! Sind Eltern aber so geschockt oder beschämt von dem Verhalten, können sie sich dazu nicht mehr frei verhalten. Entweder sie beschämen ihr Kind dann gleichermaßen, sie ignorieren es als „gutes Verhalten“ (richtig schön durchsetzungsfähig) oder sie geben aus Angst klein bei. Dabei sucht das Kind doch nach einer Antwort des Gegenübers, nach jemandem, der standhält.

Kräfte messen macht auch Spaß: dem Tyrannen nachspüren

Es ist durchaus lustvoll, miteinander die Kraft zu messen. Das richtige Maß dabei zu finden und zu merken, wann man das Gegenüber verletzt, wann man selber verletzt ist, ist wichtig. Insbesondere in der Autonomiephase beginnt oftmals eine Art Spiel um die Frage, wer eigentlich die Macht hat. „Der will sich doch nur durchsetzen“ ist eine richtige Wahrnehmung. Warum sollte ein Kind das auch nicht wollen? Aber nur weil es das will, muss es eben nicht auch so kommen. Sich damit irgendwann abzufinden, ist eine Entwicklungsaufgabe, die jedes Kind leisten muss. Was heißt müssen? Muss es natürlich nicht, aber für ein psychisch stabiles Gleichgewicht würde ich es jedem Kind wünschen.

Mit Wertschätzung und Empathie diesen frustrierenden Prozess beim Kind zu begleiten, ist manchmal sehr schwer. Manchmal klappt das gut, manchmal weniger. Aber auch da gilt: wir können das nicht immer „nach Lehrbuch“ begleiten. Wir sind nämlich als Eltern auch Menschen, die emotional reagieren. Bestenfalls können wir das reflektieren und einen versöhnlicheren und liebevolleren Weg finden, der uns am Ende auch gut tut.

 

Eure Madame FREUDig

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