Rebekka schreibt auf ihrem Blog https://weiserwerden.wordpress.com über ihr Leben mit Multipler Sklerose, über die Weisheiten des Alltags, die Suche nach dem nachhaltigen Glück und die Absurditäten des Elterndaseins. Uns beglückt sie heute mit einem Gastbeitrag, der einem Interview mit mir zur Trauer vorausgeht.

Viel Freude mit dem berührenden Text von Rebekka!

Eure Madame FREUDig

Mutterfigur mit Baby unter Schnee. Terrorpüppi | Reflektiert, bedürfnisorientiert, gleichberechtigt

Mutterlos Mutter: Wie kann ich mit einem kleinen Baby trauern?

Im August 2017 bin ich zum ersten Mal Mutter geworden. Drei Monate später war ich plötzlich mutterlos. Meine Mutter in einer solchen Ausnahmesituation zu verlieren, in der oben unten war, Tag Nacht, in der ich sowieso kaum noch wusste, wer ich war – Mutter, Frau, Freundin, Superwoman, Zombie – war unvorstellbar hart. Auf meiner Suche nach Anleitung, nach Erfahrungswerten, fand ich mich allein auf weiter Flur. Es gibt offenbar wenig bis keine Ratgeber für frisch verwaiste Mütter. Das will ich ändern. Schließlich bekommen wir in Deutschland immer später Kinder, deshalb erleben auch immer mehr Mütter diesen Verlust im direkten Zusammenhang mit einer Geburt.

In diesem Beitrag möchte ich erzählen, was der Tod meiner Mutter für mich mit bedürfnisorientiertem Umgang mit meinem Baby zu tun hat, welche Herausforderungen sich mir gestellt haben und welche ersten Lösungsansätze ich gefunden habe. Im Zentrum standen und stehen dabei zwei Fragen: Wie kann ich meiner Trauer Raum geben? Und: Schade ich damit meinem Kind?

 

Bedürfnisorientiert und in Trauer – ist das machbar?

Ich habe den Anspruch an mich, meinen Sohn bedürfnisorientiert großzuziehen. Das bedeutet für mich …

 

  • seine Individualität, seine Bedürfnisse und seine Grenzen wahrzunehmen und zu respektieren
  • geduldig und präsent zu sein und ihm Sicherheit und Halt zu geben
  • ihm gleichzeitig so viele Autonomie wie möglich zu gewähren und ihn nicht durch unnötige Neins und Glaubenssätze einzuengen
  • auf mich zu achten, meine Bedürfnisse zu stillen, meine Grenzen zu wahren – und ihm dadurch ein Vorbild zu sein

Da mein Freund schnell nach der Geburt wieder arbeiten ging, bin ich die primäre Bezugsperson für unser Kind und ich muss sagen, dass er mich mehr brauchte, als ich mir das je hätte vorstellen können. Als kleines Baby wollte er nur auf mir schlafen, von mir getragen werden und natürlich von mir gestillt werden. Es gab also kaum Freizeit, kaum Freiheit, kaum Raum für mich. Die Trauer um meine Mutter und vorher der Schock ihres Todes haben diese Situation natürlich enorm zugespitzt und mich absolut an meine Grenzen gebracht.

Das größte Gefühl war zunächst Ohnmacht. Im wahrsten Sinne des Wortes. Denn ich war zuständig für ein verletzliches kleines Wesen, gleichzeitig war ich aber selbst ein verletztes kleines Wesen. Ich fühlte mich nicht stark, nicht mächtig genug, über mich hinauszuwachsen. Ich wollte bemuttert werden, nicht bemuttern. Mein Sohn bemerkte natürlich die Anspannung in mir und war entsprechend verunsichert und anhänglich – ein Teufelskreis. Sein Bedürfnisse nach Nähe, nach Geborgenheit, nach Sicherheit traf auf mein Bedürfnis nach Autonomie. Von vielen Seiten wurde mir geraten, mein Bedürfnis zu erfüllen, in dem ich es über die seinigen stellte (“Dann lass ihn mal schreien, das muss er lernen”, “Abstillen, dann kannst du auch mal weggehen” etc.). Ich möchte diesen Weg nicht verurteilen, alle Eltern haben ihre eigenen Grenzen und Wege. Für mich kam es aber nicht in Frage, ganz einfach, weil mir das Hinwegsetzen über die Bedürfnisse meines Kindes die nötige Entspannung und Ruhe nicht gebracht hätte. Im Gegenteil – ich hätte mich doppelt gequält, denn ich hätte gegen meinen Instinkt und meine tiefe Überzeugung gehandelt. Also musste ich leider zunächst auf einiges verzichten, das ich gebraucht hätte.

Kein Versinken im Schmerz

Ich wollte allein sein und in meinem Schmerz versinken, traurige Filme schauen, stundenlang mit Freundinnen telefonieren. Ich wollte baden und mit dem Kopf unter Wasser tauchen und nichts hören und nichts sehen. Nur: Mein Kind wollte in dieser Zeit – und das hat sich nicht großartig geändert – nicht ohne mich sein.

Keine Teilhabe an Ritualen


Mit einem drei Monate alten Baby habe ich die Beerdigung meiner Mutter nur wie einen vorbeifahrenden Zug mitbekommen. Ich erinnere mich primär daran, im Auto und auf der Gasthoftoilette zu stillen. In der Kirche stand ich, mit dem Baby im Tragetuch, am Rand. Alles zog irgendwie an mir vorbei, Gespräche, das Essen, selbst das Begräbnis auf dem Friedhof. Ich hätte dieses Ritual gebraucht, um einen Grundstein zu legen für den Abschied von meiner Mutter, aber es war einfach nicht möglich, mich dafür frei zu machen.

Lösung auf Zeit: Trauer im Eisfach


Mit meinem winzigen “Steinzeitbaby”, das nur von Mama getragen und gestillt werden wollte, gelang es mir nicht, in dieser Ausnahmesituation meine Grenzen zu wahren. Da war Frustration natürlich vorprogrammiert. Es gab Momente, in denen ich kurz davor war, meinen Sohn anzuschreien oder gar zu schütteln. Mehrmals habe ich ihn angemeckert, passiv-aggressiv angezickt. Danach habe ich mich entschuldigt, hatte enorme Schuldgefühle. Schnell war klar: So ging es nicht mehr weiter.

Meine Lösung bestand darin, meine Trauer “einzufrieren”. So habe ich es für mich erklärt. So hat es sich angefühlt. Ich habe einen Eiswürfelbehälter genommen und meinen Schmerz und meine Trauer hineingegossen und ich habe ihn in den Gefrierschrank gestellt. Damit meine Trauer auf mich warten kann – bis mein Kind etwas größer ist und meine Unabhängigkeit auch. Und dabei nicht an Geschmack, an Intensität, an Stärke verliert. Nur so war ich in der Lage, in den ersten Monaten nach dem Tod meiner Mutter (4. und  5. Monat des Babys) seine Bedürfnisse verlässlich und prompt zu erfüllen.

Als mein Sohn sechs Monate alt war, entspannte sich die Situation etwas. Er schlief mittags im Bett und so fand ich Momente der Ruhe. In dieser Zeit begann ich, meine Trauer portionsweise aufzutauen und ergriff Maßnahmen, um mich meinem Schmerz zu nähern.

Wege der Besserung: Von Authentizität und Auszeiten

Authentizität und Erklären

Ich versuche, meinem Sohn gegenüber authentisch zu sein. Zu Beginn hatte ich in meinem unbändigen Schmerz das Baby oft verängstigt oder zumindest verunsichert. Verzweiflungsausbrüche verkniff ich mir deshalb, verschob sie auf einsame Spaziergänge oder den späten Abend. Aber ich weinte tagsüber dennoch viel und oft. Dann erklärte ich meinem Kind, was passierte: “Mama weint.” “Ich bin traurig.” “Ich vermisse meine Mutter.” Dabei versuchte ich nicht, krampfhaft zu lächeln oder einen optimistischen, singenden Tonfall einzuschlagen, aber doch eine Grundsicherheit auszustrahlen. Wenn er mich dann neugierig, wissbegierig ansah, stahl sich oft wie von selbst ein echtes Lächeln auf mein Gesicht.

Trauerberatung

Ich ging ohne Baby zu einer Trauerberatung beim großartigen Verein Familienzelt Berlin ((http://familienzelt-berlin.de/home/)). Hier wurden mir Tipps für Rituale gegeben, die ich noch nicht in die Tat umgesetzt habe (siehe “Was noch kommt”). Außerdem half mir der Termin sehr, weil ich als Individuum, nicht als Mutter, im Mittelpunkt stand.

Kleine Zeitfenster, effizient genutzt


Es klingt zynisch aber ich habe schnell gemerkt, dass ich als Mutter in meiner Trauer einfach effizienter sein muss. Mein Schlüssel dazu war Musik. Es gibt Lieder, die mich so an meine Mutter erinnern, dass ich sofort weinen muss. Eine der ersten Maßnahme, die ich ergriff, war, mit meinem Sohn für sein Morgennickerchen in den Park zu gehen – er schlief in dieser Phase (4., 5. Monat) sowieso nur im Tragetuch. Dort ging ich im Zickzackkurs auf einer großen Wiese hin und her, hörte diese Lieder über Kopfhörer und weinte hemmungslos weil unbeobachtet. Nach circa einer halben Stunde wischte ich mir die Tränen ab und ging einkaufen oder was auch immer zu erledigen war.

Auszeiten nehmen

Trotz aller Bemühungen schaffte ich es natürlich nicht, genug Zeit und Raum für meine Trauer zu finden – falls es das überhaupt gibt, ein Genug. Unterstützt von meinem Freund, der ein verantwortungsbewusster aber auch unaufgeregter Papa ist, begann ich schließlich, mich ab und an doch abends zu verabschieden und eine Freundin zu treffen. Mein Sohn stand bei diesen Treffen auf der schwarzen Liste, was Gesprächsthemen anging. Es war hart für mich, das Ganze durchzuziehen, denn ich wusste, dass mein Sohn nicht versteht, warum ich nicht da bin. Er hat sich an diesen drei, vier Abenden auch tatsächlich in den Schlaf geschrien, in Papas Arm. Ich kann aber aus Überzeugung sagen, dass es für ihn so besser war, denn in diesen Phasen war ich so am Limit, dass ich ihm keine zugewandte und bedürfnisorientierte Mutter sein konnte.

Was noch kommt

Einiges an Trauer habe ich aufgetaut, aber unterm Strich, das weiß ich, lasse ich den Tod meiner Mutter noch immer nicht wirklich an mich heran. Jetzt ist mein Sohn ein Jahr alt, ich gehe seit Kurzem wieder arbeiten, ein neues Kapitel unserer Beziehung beginnt. Und ich habe einige Projekte, die ich unbedingt in Angriff nehmen will.

Familienzusammenführung

Ein toller Impuls aus der Trauerberatung war, meine Mutter und meinen Sohn sich gegenseitig kennenlernen zu lassen. Ich erzähle ihnen voneinander. Wenn ich einen Ausdruck verwende, den ich von meiner Mutter kenne, sage ich: “Das hat Oma Ulla immer gesagt”. Wenn ich spazieren gehe, spreche ich mit meiner Mutter: “Er sieht genauso aus wie ich in dem Alter, findest du nicht? Ist er nicht wunderbar?”

Ich plane außerdem, eine Kiste vorzubereiten, in die ich Geschenke “von meiner Mutter” lege. Zum Beispiel ein Buch, das sie ihm bestimmt gern vorgelesen hätte. Ich werde in der Heimat meine alten Kinderbücher durchsehen, mich erinnern, welche wir gemeinsam gern angeschaut haben, und sie meinem Sohn dann “von Oma” schenken. Wenn ich im Alltag etwas sehe, das ihr gefallen hätte – einen besonderen Stein, ein kleines Spielzeug, eine Karte – kommt es auch in die Box.

Aufarbeitung ohne Kind


Ich sehne mich danach, in Erinnerungen zu schwelgen, abends mit meinem Vater, meinen Geschwistern zusammenzusitzen und ganz in Ruhe und ohne Kinder lange Gespräche über meine Mutter zu führen. Dieser Wunsch liegt derzeit noch im Eisfach, denn aktuell begleite ich meinen Sohn in den Schlaf und er wacht, bis ich ins Bett komme, häufig auf, will Nähe tanken und gestillt werden. Wir arbeiten aber daran, dass er ohne Stillen einschläft beziehungsweise mit dem Papa, wenn ich nicht zur Verfügung stehe. Es ist ein Prozess, aber erste Fortschritte können bereits verzeichnet werden.

Was ich aber unbedingt bald angehen möchte, ist, die Beerdigung für mich nachzuholen: das Grab besuchen – ohne Kind – und in Ruhe mit meiner Mutter sprechen, mich verabschieden. Zum Jahreseelenamt plane ich außerdem einen Besuch in dem Hospiz, in dem sie verstorben ist und wo ich sie leider nicht besuchen konnte. Ich möchte das Zimmer sehen, in dem sie ihre letzten Wochen verbracht hat, mit den Menschen dort sprechen. Es wird hart werden, aber ich glaube, es wird mir helfen, mich der Realität ihres Todes zu stellen.

Trauergruppe als Abendtermin


Ich möchte so bald wie möglich eine Trauergruppe besuchen. Einen Abend im Monat wird mein Sohn dann von seinem Vater ins Bett gebracht. Immer noch ist mein Kind nicht so weit, dass es gut und gern ohne mich ist, schon gar nicht abends. Es gilt also erneut, unsere widersprüchlichen Bedürfnisse abzuwägen. Anders als vor 10 Monaten komme ich heute aber zu dem Schluss, dass mein Bedürfnis nach Raum und Zeit zum Trauern meinem Sohn jetzt zugemutet werden kann. Ich hoffe, es klappt!

Fazit

Trauern mit Baby – es ist (fast) unmöglich. Natürlich kommt es auf das Alter und das Naturell des Kindes an. Als primäre Bindungsperson eines jungen “Steinzeitbabys” im ersten Lebenshalbjahr habe ich es nicht vermocht, wirksam zu trauern. Selbstverständlich kamen bei mir Faktoren wie die räumliche Entfernung zum Grab meiner Mutter und zu meiner Familie, das Stillen und die Berufstätigkeit meines Freundes erschwerend hinzu.

Ob bedürfnisorientiert oder nicht, ein “Um-sich-selbst-kreisen”, wie man das als Trauernde gern täte, geht wohl generell nicht, wenn man Kinder hat. Hat man sich auch noch attachment parenting auf die Fahnen geschrieben, wird das Trauern zum unmöglichen Kraftakt und ein Plan B muss her. Um die Bedürfnisse meines Kindes nach Nähe und Bindung, nach emotionaler Sicherheit und Geborgenheit verlässlich, authentisch und ohne Bitterkeit, erfüllen zu können, musste ich meine Trauer schlichtweg einfrieren.

Ich will hier aber ausdrücklich nicht dafür plädieren, als Mutter oder Vater die eigenen Bedürfnisse zu verleugnen – denn bedürfnisorientiert heißt immer, allen Bedürfnissen Raum zu geben. Durch kleine effiziente “Fluchten” aus dem Elternalltag habe ich immer wieder Kraft tanken können. Durch einen authentischen Umgang mit meinen Gefühlen konnte ich vermeiden, dass sich Frust aufstaut und mein Kind verunsichert wird, weil Tonfall und Botschaft nicht zusammen passen. Vieles war aber schlicht nicht möglich, zum Beispiel die Teilnahme an der Beerdigung.

Vielleicht wäre es anders gegangen, ich habe es nicht anders geschafft. Ich habe aber das Gefühl, dass es das Richtige war für uns. Unsere Beziehung, seine offene, frohe, selbstsichere Art und unsere gute Bindung belohnen mich heute für diese schwere Zeit. Ich fühle mich glücklich und genieße die Zeit mit meinem Kind. Und bin fasziniert davon, wie Liebe es mir ermöglicht hat, über mich hinauszuwachsen, mehr als ich es mir je hätte vorstellen können.

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Rebekka Korthues lebt und textet in Berlin und ist seit 2017 Mama eines kleinen Brummbären. Auf ihrem Blog weiserwerden ((https://weiserwerden.wordpress.com)) schreibt sie über ihr Leben mit Multipler Sklerose, über die Weisheiten des Alltags, die Suche nach dem nachhaltigen Glück und die Absurditäten des Elterndaseins. Auch zur Trauer mit Baby gibt es dort einen Text: