In den letzten Wochen gab es in den sozialen Medien einmal wieder viele Diskussion um bedürfnisorientierte Erziehung, ausgelöst durch den Film „Elternschule“ und die zunächst positive Resonanz in den Medien, sowie die darauffolgende Fassungslosigkeit vor allem von bedürfnisorientierten Eltern über die gezeigten Methoden. Auch dieser Blog positionierte sich sehr in der Diskussion und unterstützte die #herzensschule mit deutlichen Worten durch Madame FREUDig.

Die Befürworter der gezeigten Methoden setzten bedürfnisorientierte Eltern mit selbstaufopfernden Helikoptereltern, die keine Grenzen setzen können und alle anderen Erziehungsstile militant ablehnen, gleich. Und sie bescheinigten oftmals Eltern, die bedürfnisorientiert erziehen, sich nur strikt an Ratgeber zu halten und nicht auf die eigene Intuition zu hören. Ich fragte mich, warum das so ein Widerspruch sein soll?

Kann Bedürfnisorientierung nicht auch intuitiv erfolgen?

Ich gehöre ja zu denen, die sich nicht viele Gedanken um Kindererziehung gemacht haben, bevor die Kinder da waren. Ich habe an meine Intuition geglaubt und daher auch keine Ratgeber gelesen, weder in der Schwangerschaft, noch als das Kind da war. Und es lief lange sehr gut. Weil ich mich so wenig mit der Theorie hinter der Erziehung auseinandersetzte, hätte ich mich früher auch nie als „bedürfnisorientiert“ bezeichnet. Aber je mehr ich darüber erfuhr, desto klarer wurde mir: Doch, ich erziehe bedürfnisorientiert. Ganz intuitiv. Nicht weil ich gelesen habe, dass dies der beste Weg ist. Nicht, weil ich alle anderen Wege schlecht finde. Sondern einfach, weil ich stillen, tragen, Familienbett von Beginn an für uns am schönsten (und für mich am einfachsten!) fand.

Je größer die Kinder wurden, je mehr ich hörte und las, desto mehr stellte ich fest, dass sich das nicht nur auf die Babyzeit begrenzte, sondern noch immer mein Ansatz ist. Die Kinder sind inzwischen acht und fünf Jahre alt und noch immer erziehen wir sie bedürfnisorientiert: Denn ich erziehe sie nicht alleine, mein Mann macht es genauso – er macht es nur noch viel intuitiver bzw. setzt sich noch weniger mit der Theorie auseinander. Deswegen schildere ich hier vor allem meine Perspektive.

Ich bestrafe meine Kinder nicht, weil ich Strafen für falsch halte. Ich spiegele meine Kinder in Gesprächen, also wiederhole in meinen Worten, was sie mir erzählt haben, weil ich wissen will, ob ich sie richtig verstanden habe (hier geht’s zu Madame FREUDig: Gefühle aushalten! Kinder spiegeln!). Ich begleite ihre Wut, ich erkläre meine Gefühle, ich frage sie nach ihrer Meinung, weil es sich für mich richtig anfühlt.

Immer wenn ich irgendwo lese, dass dies Aspekte bedürfnisorientierter Erziehung sind, denke ich: Ach? Das mache ich intuitiv.

Deswegen wundere ich mich dann sehr, wenn es wieder irgendwo heißt, Kinder bekämen heute keine Grenzen mehr gesetzt und Eltern sollten mehr lernen auf ihre Intuition zu hören (wie z.B. im Trailer oben genannten Films). Und am meisten wundere ich mich, wenn dieses „keine Grenzen setzen und nicht auf die eigene Intuition hören“ mit bedürfnisorientierter Erziehung gleichgesetzt wird. Denn es geht eben durchaus zusammen. (Zur Rolle von Grenzen und zur Ausbildung von Frustrationstoleranz geht’s hier entlang).

Also sind Ratgeber überflüssig und Intuition ist alles?

Nein. Auch das nicht. Ich habe großes Glück, dass ich meiner Intuition vertrauen kann. Ich habe dieses Glück vor allem deshalb, weil meine Eltern mich selbst so aufgezogen haben, dass ich diese Intuition lernen konnte. Dass ich gelernt habe, dass Nähe und gegenseitiges Verständnis in fast jeder Situation helfen.

Intuitive bedürfnisorientierte Erziehung – ein Widerspruch? | Intuition beruht auf den gemachten Erfahrungen | Terrorpueppi | Reflektiert, bedürfnisorientiert, gleichberechtigt

Vor ein paar Tagen saß ich mit meiner Mutter zusammen. Auch wir sprachen über den Film „Elternschule“ und auch darüber, dass ich Angst davor habe, dass dieser Film dazu führen könnte, dass bedürfnisorientierte Erziehung von vielen noch negativer gesehen wird, als ohnehin schon: Dass es noch mehr mit „verwöhnen“ und „nicht ausreichend Grenzen setzen“ gleichgesetzt wird. Und dass es dazu führt, dass weniger Eltern sich das trauen und mehr wieder auf autoritäre Erziehung setzen.

Naja“, sagte meine Mutter da, „Aber das mit der bedürfnisorientierten Erziehung, das kann ja auch nicht richtig funktionieren. Es kann halt nicht immer jedes Bedürfnis vom Kind erfüllt werden, was ist mit den Bedürfnissen der anderen?

Bedürfnisorientiert heißt ja, die Bedürfnisse aller zu berücksichtigen, auch der Eltern und abzuwägen. Und nicht jeder Wunsch ist ein Bedürfnis“, sagte ich.

Dann sprachen wir über ein paar Beispiele und am Ende sagte sie: „Na, wenn das bedürfnisorientiert ist, dann haben wir euch ja auch bedürfnisorientiert erzogen.

Ja“, sagte ich, „Eben“.

Denn es stimmt.

Ich bin bedürfnisorientiert groß geworden.

Auch, wenn meine Eltern niemals den Begriff verwendet hätten.

Meine Mutter hat mir so oft davon erzählt, wie ihr früher von ihren Verwandten geraten wurde, mich als Baby doch einfach nach draußen an die frische Luft zu stellen. Dass sie sich erinnern konnte, dass es bei ihren kleinen Geschwistern so gewesen war. Gefüttert wurde alle 4 Stunden und dazwischen lagen die Babys in ihren Körbchen und egal wie verzweifelt sie schrien: Niemand kümmerte sich. Es tat ihr weh, dass zu sehen. Es tat ihr weh, wie sie selbst groß wurde, ohne Nähe, ohne, dass sich jemand um sie kümmerte. Wenn sie Zahnschmerzen hatte, bekam sie einen Bonbon zur Beruhigung. Dass es sinnvoller gewesen wäre, ihr das Zähneputzen zu vermitteln, mit ihr zum Zahnarzt zu gehen, das sah niemand. Oder wollte niemand sehen.

Sie wollte mit ihren Kindern alles anders machen.

Und gemeinsam mit meinem Vater machte sie es anders. Sie trugen uns, sie ließen uns im Familienbett schlafen, wir wurden nach Bedarf gestillt. Sie wendeten keine Gewalt an, weder physisch noch psychisch.

Als ich selbst Kinder bekam, war es für mich daher überhaupt keine Frage, dass ich es genauso machen wollte, wie meine Eltern. Ich habe mich an eine glückliche Kindheit erinnert und wollte meinen Kindern dasselbe ermöglichen.

Und es klappte auch so, mit dem Bauchgefühl. Obwohl das erste Kind, meine Tochter, von anderen Menschen als quengelig wahrgenommen wurde, empfand ich das nicht so. Sie mochte zwar nicht gern allein irgendwo rumliegen, aber war immer sehr schnell zu beruhigen. Alles funktionierte wie von selbst. Meine Eltern gaben mir die ganze Zeit das Gefühl, dass ich es richtig mache. Es war schön.

…und trotzdem kamen ungebetene Ratschläge

Etwas schwieriger wurde es, als das Kind größer wurde, sprechen lernte, immer mehr konnte – und damit auch die Erwartungshaltung meiner Eltern gegenüber dem Verhalten des Kindes eine andere. Während ich immer noch versuchte, die Bedürfnisse des Kindes zu erkennen und zu trösten, auch wenn es wütend war, wenn es tobte und weinte, obwohl es objektiv keinen guten Grund dafür gab, kamen von meinen Eltern zunehmend manchmal Sätze wie: „Du kannst ihr nicht immer alles Recht machen“ oder „Ich würde sie sich einfach ausbocken lassen“.

Mein gefühlsstarkes Kind

Und weil ich da beim ersten ein besonders gefühlsstarkes Kind erwischt hatte, hielten die Wutanfälle und auch die Ratschläge ziemlich lange an. Bis ich mich wütend wehrte und mir Einmischung in die Erziehung verbat und sie zurückhaltender wurden. Ihre Meinung änderten sie aber nicht.

Als dieses gefühlsstarke Kind dann so groß wurde, das es in die Schule kam, kam das Thema wieder hoch. Weil das erste Schuljahr und alle damit verbundenen Umstellungen, besonders der Leistungsdruck für das Kind sehr schwer waren. Die Wutanfälle, die vorher fast verschwunden waren, plötzlich ungeahnte Wucht entfalteten. Und weil dieses Kind die Ferien bei den Großeltern verbringen wollte. Wir kamen nicht umhin, nochmal zu reden. Und ich brauchte Argumente für meine Gefühle. Dafür, dass ich es nicht richtig fand, ein Kind allein zu lassen, wenn es wütend ist. Dafür, dass es für mich nichts mit verwöhnen zu tun hat, wenn ich es begleite.

Also las ich mein erstes Buch über Erziehung überhaupt: „So viel Freude – so viel Wut: Gefühlsstarke Kinder verstehen und begleiten“ von Nora Imlau. Und da waren, sie meine Argumente. Nicht unbedingt Rat, denn den habe ich gar nicht gesucht, aber Wissen, dass ich weitergeben konnte. Ich habe meinem Papa etwas von Hirnregionen erzählt und meiner Mama etwas von Selbstregulation, die Kinder lernen müssen und am Besten begleitet lernen – und vielleicht waren sie nicht ganz überzeugt von meinem Ansatz. Aber auch nicht mehr ganz so von ihrem eigenen. Das Gute ist: Das müssen sie auch gar nicht. Da meine Tochter ihre Wutanfälle inzwischen fast gar nicht mehr hat – und wenn dann, nicht bei ihnen. Weil sie sich inzwischen so weit regulieren kann, dass es ohne geht.

Das konnte ich in ihrem Alter noch nicht so gut.

Und hier sehe ich eine Ursache tatsächlich darin, wie mit unserer Wut als kleine Kinder umgegangen wurde.

Meine Eltern wollten alle Liebe geben, die sie hatten. Sie haben das auch getan.

Ich war mir ihrer Liebe immer sicher.

Aber ich erinnere mich an Momente als Kind, in denen wir uns gestritten haben. In denen ich mich unglaublich ungerecht behandelt gefühlt habe und in denen ich dann allein war und es mit mir ausmachen sollte, mich „ausbocken“ sollte und das wahrscheinlich auch getan habe. Aber immer mit dem Gefühl der Ungerechtigkeit. Mit dem Gedanken „Ich laufe weg oder bringe mich um und dann werden sie ganz unglaublich traurig sein.

Ich war mir ihrer Liebe auch in diesem Moment sicher. Ich war mir sicher, sie würden traurig sein. Das ist ein Unterschied zu den Gedanken meiner Eltern im Kindesalter. Meine Mutter hat mich als junge Erwachsene einmal gefragt, ob ich eigentlich jemals den Gedanken hatte, dass ich sie umbringen wollte. Hatte ich nie. Ich war fassungslos, wie sie so etwas denken konnte. Aber sie hatte diesen Gedanken wohl als Kind. Wenn meine Mutter sich von ihren Eltern schlecht behandelt gefühlt hat, war für sie die größtmögliche Strafe, sie zu töten.

Meine Idee einer größtmöglichen Strafe war, mich selbst zu töten. Das sehe ich als Fortschritt. Aber für meine Kinder hätte ich dann doch gern, dass sie diese ohnmächtige Wut, in der sie darüber nachdenken, irgendjemanden zu töten, am Liebsten gar nicht kennen. Oder anders: Ich wollte meine Kinder in ihrer Wut nicht allein lassen. Ich hatte die Intuition, dass es richtig ist, sie nicht allein zu lassen. Wenn ich in dem Alter meiner Kinder so wütend war, wie sie es manchmal sind, dann war die Intuition meiner Mutter, mich allein zu lassen. Weil sie es selbst so gelernt hat. Und in dem Alter hat sie es auch nicht mehr hinterfragt, denn ein Kind, dass auf vielen anderen Ebenen schon so „groß“ zu sein scheint, dem traut man schon eher zu, dass es etwas absichtlich tut. Sie hat diesen Glaubenssatz nicht hinterfragt.

Sie ist also auch ihrer Intuition gefolgt – nur mit einem anderen Ergebnis. Intuition ist nicht alles!

Deswegen finde ich „Intuition ist die Lösung für alles“ sehr schwierig. Je nachdem, was wir selbst erfahren haben, kann Intuition genau die falsche Antwort sein. Eltern, die als Kinder geschlagen wurden, haben oft die Intuition, ihre Kinder auch zu schlagen. Weil sie es so gelernt haben. Ist es deshalb richtig? Natürlich nicht.

Intuition ist nicht alles | Intuitive bedürfnisorientierte Erziehung – ein Widerspruch? | Terrorpueppi | Reflektiert, bedürfnisorientiert, gleichberechtigt

Aber sich dagegen zu stellen, die eigene Intuition zu hinterfragen, das ist schwer. Deswegen bin ich sehr dankbar, dass ich das nicht muss. Dass ich so viel Liebe und Nähe mitbekommen habe, dass ich meiner Intuition in Bezug auf die Kinder vertrauen kann. Weil es sich für mich richtig anfühlt, auch wenn das Umfeld manchmal Einwände hat.

Und deswegen habe ich auf meine Intuition gehört. Deswegen habe ich mein wütendes Kind in den Arm genommen, bis es sich beruhigt hat. Beziehungsweise, bis es irgendwann gesagt hat: „Ich möchte jetzt bitte alleine sein“. Denn inzwischen kann sie es ja: Sich selbst beruhigen. Inzwischen kann sie so vieles. Sie findet selbst die Lösungen für ihre Probleme, sie motiviert sich selbst, sie versteht sich selbst.

Sie ist ein absolut wundervolles Kind. Genau wie ihr Bruder.

Von ihm möchte ich euch noch eine Anekdote von gestern erzählen. Weil seine Schwester sich beim Schulbeginn mit so vielen Dingen quälte, unter anderem auch einer großen Verlustangst, wollen wir versuchen, ihm den Schulanfang etwas einfacher zu machen. Dazu gehörte, dass wir ihm unsere Arbeitsstellen zeigen wollten. Denn für die Tochter war es immer schwer, sich vorzustellen, wo wir sind, wenn sie in der Schule ist. Sie füllte den Leerraum mit Gedanken dazu, was uns in dieser Zeit alles Schlimmes passieren kann. Also wollten wir dem kleinen Bruder rein vorsorglich unsere Arbeitswege und Büros zeigen. Er fand das auch sehr spannend. In der Theorie.

Bis wir unterwegs waren und uns meinem Büro näherten und er sagte: „Ich will das Haus nur von Außen sehen“. „Warum?“, fragte ich. „Wegen der Menschen“. Und ich verstand es. Er ist sehr schüchtern. Da einer unbekannten Menge fremder Erwachsener gegenüber zu treten, das ist schwer. Ich versuchte ihn trotzdem zu überreden, denn wir waren ja nun einmal fast da. Aber er wollte partout nicht. Also sagte ich: „Na gut. Dann gehen wir wieder…“

Und wir gingen ein paar Schritte zurück, bis er fragte: „Bist du jetzt traurig?“Naja, ein bisschen. Jetzt sind wir ja hier. Und ich hatte mich darauf gefreut, dass du siehst, wie ich arbeite. Und ich dachte, es hilft dir, wenn du in die Schule kommst. Weil du da ja auch so Situationen hast, die neu für dich sind und du musst da trotzdem durch.“, antwortete ich. „Aber in der Schule bin ich nicht alleine. Da ist meine Schwester bei mir.“, sagte er. „Sie ist aber in einer anderen Klasse. Und jetzt bist du auch nicht alleine. Ich bin ja bei dir.“, antwortete ich. „Na gut, dann gehen wir doch rein. Wenn du mich trägst?“ Also trug ich ihn bis zum Fahrstuhl. Danach ging er dann selbst den kurzen Weg zu meinem Büro. Er traute sich. Für mich. Ich sagte ihm, wie sehr ich mich freute.

Danach machten wir uns auf den Weg zum Büro meines Mannes. „Kommst du da auch mit rein?“, fragte ich ihn. „Freust du dich dann auch?“, fragte er. „Naja, ein bisschen. Mehr freut sich aber bestimmt dein Papa“. „Na gut“, sagte er. Und im zweiten Büro war er schon weniger schüchtern.

Es ist nur eine kleine Alltagssituation. Warum erzähle ich diese?

Weil er Rücksicht genommen hat.

Weil dieser wunderbare fünfjährige Junge seine eigene Angst überwunden hat, um mir und seinem Vater eine Freude zu machen. Und weil es uns wichtig war, war es ihm auch wichtig.

Und so ist es immer. Meine Kinder machen nicht immer sofort, was ich sage. Meist aber doch. Und wenn sie es nicht tun, dann haben sie einen guten Grund. Wenn ich einen noch besseren habe, warum sie es trotzdem tun sollten, dann tun sie es.

Ich muss keine Grenzen setzen. Zumindest keine, die nicht sowieso da sind. Denn die Kinder nehmen die natürlichen Grenzen, wie meine eigene Kraft, sowieso wahr. Sie orientieren sich daran. Sie sind in keiner Weise Tyrannen, sondern wunderbar empathische, rücksichtsvolle Menschen, die hoffentlich nie bei dem Anblick eines weinenden oder wütenden Kindes denken „Das braucht mehr Grenzen“.

Ich hoffe sehr, dass, wenn meine Kinder einmal selbst Kinder haben sollten, sie auf ihre Intuition vertrauen können. Ich bin sehr zuversichtlich, dass es so sein wird.

 

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