Für meine kleine Tochter, die wo immer sie auch sein mag, mir immer ganz nah sein möge.
 

Abends, wenn ich neben dir liege

In letzter Zeit schläfst du wieder bei uns im Bett. Abend für Abend, wenn ich mich selbst ins Bett stehle, wartest du dort bereits auf mich. Meine Augen müssen sich immer erst an die Dunkelheit gewöhnen, sobald ich das Schlafzimmer betrete, obwohl wir extra für dich ein kleines Nachtlicht angelassen haben. Ich genieße die Stille, die dich dann umgibt.
Ich sehe dir oft noch einen Moment einfach nur beim Atmen zu und betrachte dich dabei, wie du dich an ein Kissen oder eine Decke anschmiegst. Du wirkst in solchen Augenblicken so unglaublich zufrieden und ich bin es dann auch. Vergessen sind deine noch Stunden zuvor ausgefochtenen Müdigkeitskämpfe oder deine Wut, weil Mama dich einfach nicht verstanden hat. Vor allem aber vergesse ich dann all die anstehenden Aufgaben für den nächsten Tag. Denn abends, wenn ich neben dir liege, da weiß ich, was wirklich zählt und das liegt da bereits in meinem Bett. Du, dein Papa und ich. Wir als Familie und erst dann der Rest der Welt.

Nur noch einmal…

Abends, wenn ich neben dir liege, will ich nur noch einmal an dir riechen. Dich nur noch einmal ganz tief einatmen. Nur noch einmal deinen Geruch in mich aufsaugen. Dein Geruch ist meine Pausetaste vom Alltag. Deine Seligkeit erwischt mich dann wie eine Druckwelle. Ohne dass du es in diesem Augenblick auch nur erahnen kannst, erlaubst du mir, ganz friedlich einzuschlafen.
Abends, wenn ich neben dir liege, will ich dir nur noch einmal über den Kopf streicheln und dir zuflüstern, dass ich dich niemals loslassen werde, auch dann nicht, wenn dir Flügel gewachsen sind. Ja Flügel sollst du haben. Hoch fliegen sollst du können, aber abends, wenn ich da neben dir liege, dann will ich dir zuflüstern, dass ich auf dich aufpassen werde, damit du mit deinen Flügeln nicht wie Ikarus einst zu nah an die Sonne fliegst. Ja du darfst taumeln, ja du sollst die Wärme der Sonne spüren können, aber ich bin deine Mama und niemals möchte ich dich wie Daedalus, Ikarus‘ Vater, abstürzen sehen.
Wenn ich am Tage wieder einmal von einem Daedalus hörte, der seinen Ikarus betrauern musste, möchte ich dich nur noch einmal festhalten. Ganz fest. Nur noch einmal möchte ich sicher gehen, dass du real bist, dass du wirklich da bist, wirklich zu mir gehörst. Nur noch einmal will ich dich ganz nah bei mir haben, weil dich zu verlieren, meine größte Angst ist. Aber abends, wenn ich dann neben dir liege, sind alle Ängste wie weggeblasen: Denn abends, wenn ich neben dir liege, dann gibst du mir eine Kraft, von der ich früher nichts wusste.

Es wird nicht immer so sein

Abends, wenn ich da so neben dir liege, da weiß ich aber auch, dass es nicht immer so sein wird. Du wirst nicht für immer abends in meinem Bett auf mich warten. Das ist gut so, denn ich erfreue mich Tag für Tag daran, wie du immer selbständiger wirst und wie du dir die Welt zu deiner Welt machst. Daher genieße ich diese Zeit, wenn ich neben dir liegen darf. Ich genieße es sogar, dass ich nachts mal einen Fuß im Gesicht habe, du mich stetig weiter an den Rand des Bettes drängst und du mich nicht selten auch mal weckst, weil du schlecht geträumt hast und deinen Schnuller nicht finden kannst. Ich genieße deine Nähe, weil ich weiß, dass ich sie in dieser Form nicht ewig haben werden. Es wird nicht immer so sein, weil es nicht immer so sein darf. Die Welt steht nicht still, sie bewegt sich unentwegt und du spielst jeden Tag neue Melodien. Diese Abende aber, an denen ich noch neben dir liege, da hält die Welt für einen Moment an und zeigt sich mir dabei in all ihrer Schönheit.
Wenn du später, vermutlich sehr bald, wieder in deinem Bett einschlafen wirst, dann werde ich es genießen, in Papas Armen zu liegen. Auch dann wird meine Welt für einen Moment anhalten.
Aber wenn ich dann schlafe, wirst du mich vielleicht wecken, zu mir ins Bett gekrochen kommen, dich an mich schmiegen. Du wirst an mir riechen und dich in meine Arme legen. Du wirst das tun, weil du dich nachts, wenn du neben mir liegst, sicher fühlen kannst. Meine Nähe vertreibt die dunklen Geister, die gruseligen Monster und all die Ängste und Sorgen, die dich nachts, wenn du allein in deinem Zimmer aufwachst, heimsuchen.
Ich werde da sein, egal ob Nacht oder Tag, damit du ein Leben lang fliegen kannst. Ich liege da neben dir, damit es sich ganz tief in dich einbrennt, dass ich immer da sein werde. Du sollst niemals vergessen, dass ich dich auffangen werde, wenn du dir doch einmal die Flügel verbrennen solltest.