Wisst ihr denn schon was es wird? Nach der Verkündung der Überraschung meiner Schwangerschaft wird diese Frage so oder so ähnlich in den nächsten Wochen und Monaten sicherlich noch mehrfach auf mich zukommen. Das Geschlecht des noch ungeborenen Babys ist für die meisten Menschen von besonderer Relevanz. Manche gehen sogar so weit zu behaupten, ohne das Wissen um das Geschlecht könne man zu seinem Ungeborenen noch keine richtige Beziehung aufbauen.

Wisst ihr denn schon, was es wird? Von Ü-Eiern und dem Entgehen vor der Rosa-Hellblau-Falle | Geschlecht als Überraschung | Terrorpüppi | Reflektiert, bedürfnisortientiert, gleichberechtigt

Was ich hingegen beobachte, ist, dass nicht wenige dem kleinen Wunder, sobald das Geschlecht erst einmal bekannt ist, in stereotype Rollenvorstellungen pressen, ehe es schon auf der Welt ist. Da ist dann ganz plötzlich eine kleine Prinzessin unterwegs oder aber ein angehender Weltfußballer. Während das eine Baby schon im Mutterleib meist ganz lieb ist und sich nur zaghaft bewege, würde das andere wild strampeln.

Natürlich müssen auch die passenden Sachen besorgt werden. Geschlechtlich passend. Rosa ist für die Mädchen und blau für die Jungen. Da wird für das Mädchen schon mal vorab eine Puppe gekauft und für den strammen Jungen ein Polizeiauto. Erste Strampler wandern in die Kommode: Daddys Little Girls und angehende Superhelden.

Die Geburt als Mehrfachüberraschung

Was für ein Käse. Mein kleines Baby ist so viel, aber ganz sicher nicht nur Angehöriger eines bestimmten Geschlechts. Vielleicht wird es sich ja später nicht einmal einfach so zuordnen können. Es ist mir auch egal. Mein Baby wird ein Überraschungsei. Ich freue mich auf die Geburt und die mit ihr verbundene Mehrfachüberraschung. Ich brauche für eine enge Bindung zu diesem kleinen Wesen in mir nicht das Wissen um das Geschlecht und was ich auch nicht brauche ist ein Umfeld, dass mich mit grässlicher geschlechtsstereotyper Babykleidung beglückt.

Die Geburt der Terrorpüppi war ein Wunder. Ich habe für einen kurzen Moment ein kleines Bündel auf die Brust gelegt bekommen und mir liefen die Tränen ob des Anblicks über die Wangen. Mein Baby war endlich da, ich konnte es sehen, hören, spüren. Dann wurde sie in die Notversorgung gebracht und zurück blieben Eltern, die immer noch nicht das Geschlecht des kleinen Wesens wussten. Denn auch in den ersten Momenten nach der Geburt war das Geschlecht noch nicht so relevant. Wir waren zu überwältigt. Zu glücklich. Wir hatten schlicht nicht darauf geachtet.

Den Mann schickte ich damals direkt hinterher. Das Baby sollte nicht allein sein müssen, sondern von Anfang an von uns begleitet werden. Nach einiger Zeit kam er kurz zurück, um mir zu berichten, dass es dem Baby gut gehe. Ich blickte ihn an, unendlich dankbar, dass trotz der schwierigen Geburt alles gut gegangen ist und fragte erst jetzt: Und? Ist ein ein Mädchen oder ein Junge?

Er wusste es nicht. Auch ihm war es bis dahin egal gewesen, denn allein die Gesundheit des kleinen Zauberwesens und die überwältigende Freude seiner Ankunft zählten. Dennoch schickte ich ihn wieder los. Jetzt wollte ich es doch so langsam wissen. Das Baby braucht schließlich auch einen Namen…

Mädchen sind Mädchen – Jungen sind Jungen

Versteht mich nicht falsch, ich finde keineswegs, dass man das Geschlecht negieren und in jeder Hinsicht geschlechtsneutral agieren müsse. Ich liebe zum Beispiel Kleider und Röcke. Doch ich zwinge sie meiner Tochter nicht auf und würde ich einen Sohn haben, der auch mal ein Kleid anziehen will, würde ich dem nicht im Wege stehen. Die passende geschlechtliche Identität zu finden, ist wichtig für Kinder. Aber sie sollen sie weitgehend allein finden. Von uns unterstützt, ja, aber ihnen nicht aufgezwungen.

Mich stört die übliche Zuordnung „Junge/ Mädchen“ nicht, auch wenn ich weiß, dass es noch mehr als das gibt. Was mich hingegen stört, sind die mit dem Geschlecht verbundenen Rollenerwartungen. Mädchen sollen lieb und brav, ruhig und zart, zurückhaltend, sich um andere kümmernd und rücksichtsvoll sein. Jungen hingegen dürfen und sollen wild, abenteuerlustig, draufgängerisch, experimentierfreudig und offen sein. Sie dürfen auch mitunter frech und rabiat sein. All das wird bereits von Anfang an – natürlich in aller Regel unbewusst und nicht mal bös‘ gemeint – an unsere Kinder transportiert.

Ich habe sogar erst neulich gelesen, dass Eltern von Anfang an Mädchen in ihren Fähigkeiten eher unterschätzen und Jungen regelmäßig überschätzen. Kleine Prinzessinnen müssen sich ja auch nicht so schnell entwickeln, zu rasch selbstständig und stark werden. Die angehenden Weltfußballer hingegen sind selbstverständlich ihrem Alter voraus und jeder Entwicklungsschritt wird nicht nur bejubelt, sondern am liebsten schon forciert.

Ich habe schon bei meiner Terrorpüppi bewusst darauf geachtet, ihr von Anfang an nicht die Grenzen dieser Welt permanent vor Augen zu führen, sondern ihre Möglichkeiten zu betonen. Was sie sich zutraut, was sie sich wünscht, werde ich nicht verhindern – solange es jedenfalls nicht ernsthaft gefährlich ist (Messerwerfen, auf dem Fensterbrett balancieren, aus dem fahrenden Zug springen, in die heiße Bratpfanne langen, …).

Wo man auch hinblickt: Die Rosa-Hellblau-Falle lauert uns auf

Die Rosa-Hellblau-Falle wartet überall auf uns. Wir als Eltern können uns ihr nur innerhalb bestimmter Grenzen entziehen. Mich mit dem Geschlecht bis zur Geburt aber überraschen zu lassen, hatte den ungemeinen Vorteil, dass mein Umfeld die skizzierten Rollenzuweisungen zumindest noch nicht in der Schwangerschaft vornehmen konnte. Bei der Terrorpüppi hat das super geklappt. Die Anziehsachen, das Spielzeug – alles war am Anfang einfach nur für ein Baby, dem man etwas Schönes schenken wollte. Seitdem setzen wir immer noch auf Geburtstags- oder Weihnachtswunschlisten nicht nur Puppen, sondern auch Bagger. Für alle ist das vollkommen normal.

Wir haben nicht nur unserer Tochter, sondern auch unserem Umfeld vorgelebt, dass ein kleines Mädchen alles sein, tun und werden darf, was Jungs auch so sind, tun und werden. Sie ist Ärztin, Baggerfahrerin, Fußballerin, Turnerin, Ringerin, Draufgängerin, Abenteuerin und Prinzessin. Sie trägt Kleidung in orange, rot, grün, braun, beige, gelb, hellblau, grau – und auch in lila, pink und rosa.

Meine Tochter darf also auch eine Prinzessin sein. Sie darf auch rosa tragen oder mit Puppen spielen. Doch nichts von dem treibe ich durch meine Kaufvorentscheidungen maßgeblich voran. Da sind natürlich auch schon meine Grenzen. Denn wenn das Umfeld zu stark wird, zu geschlechtsstereotyp agiert, dann muss ich mich damit ein Stück weit arrangieren. Aber akzeptieren, gut heißen, ja unterstützen werden ich das nicht.

Die Entscheidung für das Ü vor dem Ei

Die soeben skizzierten Gedanken hatte ich in der Schwangerschaft der Terrorpüppi in dieser Breite noch nicht. Für mich stand am Anfang sogar außer Frage, dass ich das Geschlecht schon vor der Geburt wissen werde. Doch da hab ich nicht mit dem Mann gerechnet. Für den wiederum war völlig klar, dass er das Geschlecht keinesfalls wissen wolle. Plötzlich stand die Frage im Raum: Überraschen lassen oder nicht?

Zuerst konnte ich mir das überhaupt nicht vorstellen. Ich wollte einfach alles über das kleine Wesen in mir wissen. All meine Gedanken drehten sich um es. Es folgten zähe Verhandlungen mit dem angehenden Papa und das Durchspielen verschiedener Varianten. Als Option stand im Raum, dass ich es mir sagen lasse, ihn aber im Unklaren lasse. Das Umfeld sollte eh nichts erfahren.

Das Geschlecht als Überraschung – Schaffe ich das?

Doch ich traute mir nicht zu, dass ich wirklich dichthalten würde. Ich fürchtete, dass ich es durch die Verwendung des geschlechtlich passenden Pronomens doch irgendwann verraten würde… Im Laufe der Wochen wuchs in mir die Bereitschaft, mich auf das Experiment „Überraschung“ einzulassen. Schließlich verkündete ich dem Mann, dass auch ich mich überraschen lassen würde. Allerdings unter der Bedingung, dass wir es uns in der nächsten Schwangerschaft sagen lassen würden.

Nun bin ich wieder schwanger und nach den Erfahrungen der ersten Schwangerschaft stand für mich fest: Es wird wieder ein Ü-Ei. Ich begann damals mein Unwissen bezüglich des Geschlechts derart zu genießen, dass ich es mir plötzlich gar nicht mehr anders vorstellen konnte. Zur Überraschung, aber auch zur Freude meines Mannes. Mir scheint, dass gerade in unserer modernen Zeit der Schwangerschaft sowieso schon nahezu jeglicher Zauber genommen wurde. Vielfach wird sogar vor allem Angst und Zweifel gesät. Durch die umfassenden Vorsorgeuntersuchungen weiß man bereits vor der Geburt unglaublich viel über das neue Menschenwesen, sodass das Wissen um das Geschlecht womöglich sogar die letzte Bastion der Magie in der Schwangerschaft ist. Diese Magie lasse ich mir nicht nehmen.

(Lese hier vom Zauber der zweiten Geburt)

 

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